Seeherzen (German Edition)
mich unter Kontrolle gebracht; einen Moment lang schien sie mich nicht einmal zu erkennen. Doch dann tat sie es. Hinter ihren Augen schimmerte meine Mum hindurch, auch wenn sie noch sehr weit weg war.
«Kann ich irgendwas für dich tun, Mum?», fragte ich und stellte fest, wie zart meine eigene Stimme klang, so als wäre ich noch wesentlich jünger und unschuldiger. Mit dieser Stimme, so wurde mir klar, sprach ich immer in diesem Zimmer, mit dieser zugedeckten Mum. «Soll ich dir einen Tee machen, schön süß? Es sind auch noch ein paar von den Keksen da, die Dad und ich gebacken haben, weißt du noch?» Ich konnte einfach nicht aufhören, in diesem idiotischen Tonfall auf sie einzureden, ihr irgendetwas anzubieten.
Sie schüttelte den Kopf. «Ich hab keinen Hunger und auch keinen Durst, Daniel.»
«Soll ich dir vielleicht die Füße massieren? Oder die Haare kämmen? Guck mal, sie sind ganz durcheinander.»
Wieder schüttelte sie den Kopf, der in dem Durcheinander lag, in ihrem ungezähmten schwarzen Haar, das ich nicht von dem schwarz-grünen Seegrasgewebe unterscheiden konnte. Sie lächelte mir zu. «Nein, Liebes», sagte sie. «Ich brauche im Moment nichts. Ich fühle mich ganz wohl hier.»
Mit einem tiefen Seufzer schlief sie wieder ein. Ich beobachtete sie, während ihre Worte sanft in meinem Kopf nachhallten. Sie hatte mich angelogen. Sie hatte gelogen, um mich loszuwerden. Sie fühlte sich nicht wohl – sie fühlte sich hundeelend. So wie Aggie, so wie Amy Dressler, so wie alle Mums, alle Ehefrauen war sie unglücklicher, als ich es je gewesen war; sie waren unglücklicher als alles Unglück, das ein Junge wie ich sich überhaupt vorstellen oder verstehen konnte. Und auch Dad fühlte sich elend – so wie alle Dads; denn welcher Mann konnte schon glücklich sein, wenn seine Frau in einem solchen Zustand war?
Der Grund für all das Elend um mich herum war für meinen Verstand ebenfalls zu wenig greifbar und zu groß geraten.
Ihr Zuhause war unter den Wellen, und da gehören sie auch immer noch hin,
hatte Edward gesagt. Seine Bemerkung hatte mich ebenso getroffen wie Kit. Wie konnte meine Mum irgendwo anders hingehören als in unser Haus oder später in meine Nähe, wenn ich hinaus in die Welt ging? Aber es war natürlich die Wahrheit – sie hatte es mir ja oft genug selbst gesagt:
Ich komme aus dem Meer.
Ich nahm ihr nicht übel, dass sie mich jetzt anlog. Eigentlich war ich ihr sogar dankbar, dass sie sich im Gegensatz zu Aggie oder Amy bemühte, ihre Sorgen von mir fernzuhalten. Meine eigene Unbekümmertheit, meine eigene Freude waren doch auch eine Lüge, oder etwa nicht? Meine Stimme nahm zwar mühelos diesen hohen, süßlichen, hilfsbereiten Tonfall an, aber auch er war letztlich eine Täuschung. Wen hoffte ich damit hinters Licht zu führen? Auch ich war unglücklich – wir Jungen waren es alle, wenn wir sahen, wie schlecht es unseren Mums ging. Wir konnten ihnen zwar die Haare kämmen, auf einen Finken vor dem Fenster deuten, ihnen Katzen und Tee bringen, aber wie sollten wir unseren Eltern – und uns selbst – mit solchen Kleinigkeiten die schwere Last des Elends von den Schultern nehmen?
Ihr könnt nichts für mich tun
, hatte Mum oft genug zu mir oder Dad gesagt oder zu uns beiden, wenn wir sie gemeinsam in die Arme schlossen.
Wer konnte dann etwas für sie tun? Ich lehnte mich in meinem Stuhl zurück, den Blick auf das sonnengefleckte Meer gerichtet, um mir eine Pause vom Anblick meiner traurigen Mum zu gönnen. Der Geruch der feuchten Seetangdecke war wärmer und behaglicher als der durchdringende Meeresgeruch der Robbenpelze, zwischen denen wir Jungs uns in Wholemans Lagerraum herumgedrückt hatten. Es war aber eindeutig der gleiche Geruch, und ich musste sofort wieder an die Pelze denken. Mir wurde klar, was für eine fürchterliche Sache wir Jungen dort angestellt hatten, besonders nach dem, was mit Amy und Aggie passiert war. Woher hatten wir den Mut genommen und den Leichtsinn besessen, uns auch nur in einen Raum mit den Pelzen zu begeben, geschweige denn, sie vom Haken zu nehmen und anzuprobieren? Es waren keine
Kostüme
; es waren die abgestreiften Häute unserer Mütter; wie sollten unsere Mums ohne sie ihr
wahres
Ich sein können, ihr Unterwasser-Ich, das Ich, in das sie hineingeboren worden waren? Sie liefen hier an Land umher, ungeschützt vor der Kälte, vor der Liebe unserer Väter und vor uns Jungen, die sie Tag und Nacht beanspruchten.
Mir fiel wieder ein, wie
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