Seeherzen (German Edition)
bekamen. Warum sollte das Flehen eines Jungen sie davon überzeugen, seine Mutter in ihre Heimat zurückzubringen, damit sie wieder glücklich werden konnte, wieder dort war, wo sie hingehörte? Misskaella hatte ein Herz aus Stein und lehrte Trudle, ebenso herzlos zu werden wie sie selbst. Noch war es ihr nicht gelungen, Trudle das Interesse an jedem erwachsenen Mann, der ihr über den Weg lief, auszutreiben, aber die Meerfrauen und Kinder ignorierten mittlerweile beide.
Wieder blickte ich aufs Meer hinaus, auf den Horizont und den Himmel darüber, aus dem jeglicher Hoffnungsschimmer verschwunden war. Doch dann sah ich, wie jemand zwischen den Molenfelsen den Arm hob und wieder fallen ließ. Ich konnte ein Stück Schwarz ausmachen, Haare, die im Wind umherflatterten, und einen blassen Fleck, das Gesicht eines Jungen. Mir war egal, wer es war; es war weder eine Mum noch ein Dad, noch eine Hexe, und er würde mich aus meiner düsteren Stimmung reißen. Ich schlitterte über den Sand zum Strand hinunter, ging an den Molenfelsen entlang und bis zu ihm nach unten. Es war Toddy Marten; er hatte sich einen Platz ausgesucht, an dem er ungestört sitzen und in die Ferne blicken konnte, ohne selbst gesehen zu werden. Er wiegte sich singend hin und her, spazierte durch seinen eigenen Kopf, schwamm in seinem privaten Meer. Dann zog er etwas zwischen seinen Füßen hervor – eine Taschenflasche – und trank daraus.
«Daniel Mallett!», rief er, als er mich von den Felsen, die auf ihn zuzuklettern schienen, unterscheiden konnte. «Was bringt Sie denn an so ’nem herrlichen Tag hierher, werter Herr?» Und er streckte mir wie ein Opa auf einer Dorfbank die Hand entgegen.
Ich schüttelte ihm die froschkalte Hand. «Was treibst du denn hier draußen?», fragte ich. Ich setzte mich mit dem Hintern in den nassen Sand neben ihn, und sofort erschloss sich mir der Reiz dieses Ortes – Potshead war wie vom Erdboden verschluckt, die Mole hinter uns verdeckte das Dorf vollständig.
«Was ich hier treibe? Na, trinken.»
«Das sehe ich. Wird dein Dad dich nicht verdreschen, weil du ihm den Schnaps geklaut hast?»
«Vielleicht», entgegnete Toddy fröhlich. «Vielleicht schlag ich auch zurück – vielleicht sogar meinen Großvater und vielleicht auch meinen Urgroßvater, weil die uns in diesen Riesenschlamassel verwickelt haben. Hier, Daniel, nimm ’nen Schluck. Fühlt sich an, als hättste heiße Kohlen im Magen. Macht dich am ganzen Körper warm, bis zu den Fußnägeln.» Er drehte den Korken heraus und hielt mir die Flasche hin.
Ich hob sie an die Lippen und kippte einen Schluck hinunter. Der Alkoholdunst strömte aus dem Flaschenhals heraus und zwickte mir in die Nase, während mir der kalte Schnaps in die Zunge biss; ein wenig floss seitlich vorbei, tropfte mir auf den Kragen und hinterließ von meinem Mundwinkel abwärts eine eisige Brandspur. «Brrrr!» Ich gab ihm die Flasche zurück und wischte mir das Kinn ab.
Er nahm einen weiteren Zug. «Und das Zeug hilft dir, Dinge zu vergessen. Vernebelt dir das Hirn. Man kann einfach nur hier sitzen und singen. Und dann kommt auch noch ’n Freund vorbei» – er legte mir den Arm um die Schulter und brummte zufrieden, und wir beide lachten über seine vorgetäuschte Begeisterung –, «und schon ist alles wieder in Butter! Guck dir das wunderschöne Wasser an, Daniel. Und seh ich da etwa ’nen Albatros? Haben wir nicht ’n Glück?»
«Wenn’s ein Albatros wär, schon, aber das da ist ein Tölpel.» Ich versuchte immer noch, mit dem Schnaps in meinem Magen klarzukommen; es fühlte sich an, als ob er mir Löcher in die Speiseröhre fraß und sie in feine Spitze verwandelte.
«Is doch ’n toller Vogel, dein Tölpel da, oder?»
«Ein ganz toller Vogel.»
«Is ’n
ganz
toller Vogel.» Er zog den Arm weg und knallte den Korken wieder in den Flaschenhals. Dann änderte sich seine Stimmung. «Was soll das alles, Daniel? Ist doch nicht auszuhalten, was hier abläuft, findste nicht?»
«Mit den Mums, meinst du?»
«Mit den Mums, mit den Dads, mit
jedem
.» Er breitete die Arme aus, als befänden sich diese Leute alle vor uns auf dem offenen Meer, nicht hinter uns, und als wollte er sie alle gleichzeitig umarmen.
«Keiner von uns ist mehr glücklich», gab ich zu.
«War denn überhaupt jemand jemals wirklich glücklich? Mir kommt’s vor, als wären wir Rollrock-Jungs nur glücklich, solange wir zu jung sind, um zu kapieren, dass wir eigentlich gar nicht glücklich
Weitere Kostenlose Bücher