Seeherzen (German Edition)
möglicherweise zu dem Zeitpunkt, an dem die Jungen mit den Pelzen zu den jeweiligen Mums rennen sollten, durch die Straßen schlendern würde.
Im Schankraum gab es eine Uhr, deren Läuten noch hinten im Flur zu hören war. Jetzt war es an mir, die Männer davon abzuhalten, zwischen viertel nach zehn und halb elf zum Klo zu gehen. Unterstützung bekam ich von Jerrolt, dem Geiger, den ich gebeten hatte, ausschließlich langsame Trauermelodien zu spielen. Es wäre nämlich äußerst unhöflich, währenddessen einfach aufzustehen, um pinkeln zu gehen: ‹Die Nacht, in der meine Mutter starb›, ‹Tief trieb das Boot im Hafen› und ‹Der wildeste Sturm›. Es gelang ihm, die Männer dort in rührseliger Stimmung auf ihren Plätzen zu halten, einige sangen mit, andere weinten, und ich stahl mich hinter die Theke, von wo ich ein Warnsignal an die Wand zum Lagerraum klopfen konnte, falls einer der Männer zwischen den Stücken von seinem Stuhl aufspringen sollte. Doch Jerrolt übertraf sich an diesem Abend selbst, was die Gefühlsseligkeit seines Spiels anging, und alle Männer hielten ihre Blase unter Kontrolle, als wären sie eingeweiht und wollten nicht stören, während die Jungen auf der Rückseite des Pubs eine Kette bildeten und die Häute in Windeseile weiterreichten – bis zu Lonna Trumbell am Ende der Kette, die an jedem Pelz schnupperte und dem nächsten bereitstehenden Läufer sagte, wem er gehörte.
Während des Sturmlieds schlug es halb elf. Sobald das Lied zu Ende war, sprang Nerdnor Prout auf, stürzte auf die Tür zum Flur zu, und ich klopfte sicherheitshalber Alarm, falls Grinny und Batton beim Ausräumen des Lagerraums die Zeit überschritten hatten. Bestimmt waren fünfzehn Minuten nicht genug gewesen! Bei so vielen Mums! Bei so vielen Pelzen!
«Jetzt spiel mal was Fröhliches, Jerrolt!», rief jemand. «’nen Volkstanz oder so was – ‹Der Ball der armen Leute› oder ‹Die Tochter des Elfenkönigs›, eins davon!»
Ich harrte mit angehaltenem Atem aus. Da tauchte Nerdnor wieder auf, trat an die Theke, und ich wartete von Grauen gepackt darauf, dass er Wholeman berichtete, der Hintereingang rieche nach Robbenhäuten und auf dem Hof wimmle es von kreischenden Kindern, die geheimnisvolle Bündel bei sich trugen.
Doch er sagte nur: «Gib mir noch ’n Schlückchen von dem Gorgon, Storn!», und durchsuchte seine Taschen nach den passenden Münzen.
War es also vollbracht? Hatten wir es tatsächlich geschafft? Eilten die Mums gerade zum Ufer hinunter, um die Jungen singend in die Flickenhäute einzunähen und mit ihnen fortzuschwimmen? Und was wäre beängstigender – wenn uns ein paar Schnüffler oder ein unvorhergesehenes Ereignis einen Strich durch die Rechnung gemacht hatten oder dass unser Plan reibungslos abgelaufen war und dass mein Wunsch, meine Mum möge glücklich sein, Potshead aller Frauen und Söhne beraubt hatte?
Ich ging durch den Schankraum und sammelte Flaschen und Gläser ein, dann hastete ich in die Spülküche und spülte, was das Zeug hielt, wünschte mir, diesen Plan niemals ausgeheckt zu haben und dass die Pelze noch immer aufgereiht hinter der verriegelten Tür des Lagerraums hingen. Ich stapelte die Flaschen auf, schob das Tablett mit den Gläsern zur Theke durch und verschwand dann durch den Hintereingang – für jeden im Schankraum musste es aussehen, als wollte ich lediglich meine Blase erleichtern, doch in Wahrheit verließ ich meinen Arbeitsplatz, schmiss meinen Job hin, verließ meinen Dad, der dort drüben mit Fernly Ashman und Michael Clift plauderte, ließ das einzige Leben zurück, das ich kannte.
Nachdem ich die Tür hinter mir geschlossen und Jerrolts erneutes Aufspielen und die wiederanschwellenden Gespräche ausgesperrt hatte, war es plötzlich still. Der Flur war leer und roch nur ein bisschen mehr nach Meer als gewöhnlich. Ich lief zum Lagerraum hinüber, wo das Vorhängeschloss ordnungsgemäß verschlossen vor seinem Riegel hing. Ich hob den Deckel der Truhe an, die neben der Tür stand, und darin lag wie versprochen die zusammengerollte Robbenhaut meiner Mum. Die Jungen hatten sie ihr nicht direkt übergeben, falls Mum der Drang überkommen sollte, auf direktem Weg zum Meer zu laufen und sich ohne mich hineinzuwerfen. Ich riss mir die Schürze herunter, schnappte mir die Haut, schloss den Deckel der Truhe, verschwand durch die Hintertür nach draußen und wickelte das Bündel im Gehen in meine Schürze ein.
Das Wetter war aufgewühlt. Die
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