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Seeherzen (German Edition)

Seeherzen (German Edition)

Titel: Seeherzen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margo Lanagan
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Geheimnisse wurden zusammen mit den Blättern und Abfällen durch die Straßen gepustet, hingen so schwer in der Luft, dass es mir den Atem verschlug. Ich bemühte mich um einen möglichst ruhigen Gang und Gesichtsausdruck, aber es war weit und breit niemand zu sehen, also fing ich kurz darauf an zu rennen. In jedem der Häuser, an denen ich vorbeilief, sollte eigentlich Licht im Fenster brennen, doch sie waren stockdunkel, und in keinem der Häuser war eine Bewegung oder ein Gespräch zu hören. Mir gefror das Blut in den Adern. Auf einmal war ich wie besessen von sinnlosen Ängsten – was, wenn ich mein Haus ebenso leer und ausgestorben vorfand, wenn meine Mum auf Nimmerwiedersehen verschwunden war, wenn nicht nur alle Frauen und Jungen fort wären, sondern auch alle Väter, sodass ich als einziger Mensch auf der Insel zurückbleiben, von niemandem zu niemandem laufen und nie wieder Freunde oder eine Familie finden würde?
    Doch in unserem Haus brannte Licht, und ich stürmte ins Wohnzimmer, wo Mum auf und ab schritt. Sie hob mich hoch und drückte mich eine ganze Weile fest an sich. «Solange ich noch Arme habe, mit denen ich das tun kann», sagte sie.
    Dann setzte sie mich ab, und ich warf ihr das schürzenumwickelte Bündel zu. «Ah!», rief sie und drückte es an sich, fuhr mit Lippen und Nase an den Rändern entlang, um den Geruch aufzusaugen.
    «Erinnerst du dich noch an den Pelz und wie du damals aus ihm rausgesprungen bist?» Mit meinen Flaschenwäscher-Händen tätschelte ich die glitschige Haut.
    «Nein», sagte sie. «Aber es ist meiner, ganz eindeutig, das sehe ich, und das rieche ich. Dann lass uns aufbrechen.» Flüsternd fuhr sie fort: «Alle anderen sind schon weg, Daniel. Komm, wir schließen das Haus ab und gehen ihnen nach.»
    Ich hatte meinen Mantel oben in Wholemans Pub gelassen. Mum nahm ihren vom Haken, zog ihn über, knöpfte ihn aber nicht zu. Sie griff sich ihren eingewickelten Pelz und die Flickenhaut, die sie für mich genäht hatte. Ich legte eine Hand an den Riegel, die andere um den Türknauf. Wir blickten einander an, Dads Abwesenheit umtoste uns wie ein Unwetter. Um das Geräusch nicht länger ertragen zu müssen, schob ich den Riegel hoch und öffnete die Tür. Zu zweit traten wir in die Nacht hinaus, und ich zog die Tür hinter uns zu.
    Als wir losgingen, nahm Mum meine Hand; ihre fühlte sich kalt und angespannt an. Ich meinte, im Schein der Sterne zu erkennen, dass sie mir zulächelte, doch das Licht war sehr schwach, und ihre Haare warfen Schatten auf ihr Gesicht; es hätte ebenso gut ein unabsichtliches Zucken sein können.
    Mit schnellen Schritten hasteten und rutschten wir bergab, während uns der Wind, der in den engen Gassen gefangen war, um die Ohren pfiff und an uns zerrte. Von Zeit zu Zeit blies uns das Meer seinen grünen, stürmischen Atem ins Gesicht. Mum verfiel daraufhin immer für ein paar Meter in Laufschritt, als sei der Ruf, dem sie folgte, noch eindringlicher geworden.
    Das Wasser zwischen den Molen war aufgepeitscht und wüst. Ich meinte, dort draußen zwei oder drei Robbenköpfe zu sehen, doch als ich erneut hinsah, konnte ich sie nicht mehr ausfindig machen. Als Nächstes glaubte ich, auf dem Kiesstrand lägen Robben in allen Schattierungen herum, aber es waren nur Kleidungsstücke – Mäntel, Kleider, Hosen und Jacken. «Oh!» Der Anblick jagte mir ebenso viel Angst ein, als wären es die Leichen aller Jungen und Mums, die ich kannte.
    Mum drückte meine Hand. «Lass uns noch ein Stück weitergehen», sagte sie. «Ich will nicht an dieser Stelle hier ins Wasser. Ich möchte wildere Wellen.»
    «Wilder als die hier?» Ich stolperte hinter ihr her und warf dabei einen Blick auf die kreuz und quer schäumende Gischt zwischen den Molen. Ich hoffte, alles wäre nur ein Traum; außer in meinen Albträumen hatte ich noch nie solche Angst gehabt.
    Mum war sich ihrer Sache dafür umso sicherer; vielleicht würde ja etwas von ihrem Selbstvertrauen auf mich abfärben, wenn ich mich ganz in ihrer Nähe hielt. Ich watete die Düne am Ende der Hafenfront hinunter und rannte über den Sand des Nordstrandes hinter ihr her. Die Fenster des Dorfes, seine Augen, tauchten hoch hinter uns auf und ließen die Haut an meinem Rücken erstarren; ich sah hinauf – am Hügel waren die beiden orangefarbenen Rechtecke zu erkennen, die zu Wholemans Haus gehörten. Der Wind blies hier, wo ihn keine Gebäude mehr einengten, noch stärker; das Wasser bäumte sich auf und warf sich

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