Seeherzen (German Edition)
folgte nur noch meiner Mum, heulte ihr in unserer dunklen Welt hinterher, nahm die Gezeiten und Temperaturen wahr. Ich spürte ihrer Luftblasenspur mit meinen Barthaaren nach und schwamm hinterher, zu den Tiefen und Wundern und Freunden und Feinden, die neben uns, vor uns und unter uns warteten.
Während der Zeit, die ich im Meer lebte, geschah nichts auf eine Weise, die uns Menschen vertraut ist. Robben sitzen nicht beisammen und unterhalten sich, so wie Menschen es tun, und ihr Leben ist nicht auf die gleiche Weise ereignisreich; sie durchkämmen nicht ein ums andere Mal dieselbe Geschichte in der Hoffnung, ihr mit jedem Strich mehr Sinn zu entlocken. Das Robbenleben ist bereits von sich aus mit Sinn angefüllt und bedarf keiner Erklärungen. Wenn ich versuche, es mit meinem Menschenverstand zu beschreiben, zerfällt mein Leben als Robbe in flüchtige Eindrücke und Erinnerungsfetzen: Sonnenlicht durchbohrt das Grün, über uns kräuselt sich das gläserne Dach, pfeilschnell gleiten die Mums vor uns durch die Säle, Kathedralen und über die Höhenstraßen des Meeres; Bootsbäuche schaukeln im Gegenlicht, darüber gehen Männer murmelnd und spritzend ihrer Arbeit nach; die Robbenmänner wirbeln ihre wuchtigen Körper mit den filigranen Schwanzflossen so mühelos herum wie ein Junge einen Holzkreisel an Land, schießen nach vorn, nach oben, nach draußen. Sich im Meer zu bewegen ist, als flöge man durch grüne Luft, in der winziges Leben wimmelt und größeres gemächlicher vorbeitrudelt.
Die Robbenmänner waren unseren Dads sehr ähnlich – besitzergreifend und besorgt bewachten sie die Grenzen unseres Territoriums. Jedes Mal, wenn wir einen Strand anschwammen, verdrängten sie dort andere Robbenmänner und kehrten verletzt und blutend zurück. Manchmal versuchten meine Gefährten und ich, es den Robbenmännern gleichzutun, doch wir prallten nur mit unseren Gummiköpfen gegeneinander, ohne Zähne und ohne große Absicht dahinter, und die faulenzenden Mums um uns herum lachten.
Und dann gab es dort unsere Robbenschwestern, so groß wie wir, aber keine Kämpferinnen. Einige der barthaarigen Meermädchen waren halbmenschlich, die meisten ganz Robbe, und gemeinsam glitten wir zwischen den Säulen aus Sonnenstrahlen hindurch. Sie blinzelten neben uns durch das Dach unserer Welt in die windige Luft; kratzend fuhr uns der frische Atem durch die Nasen. Sie schnellten wie fliegende Samenkörner oder Steinchen durchs Wasser, wie Pfeile oder Kugeln, wie Tang, der sich durch die Strömung schlängelt oder einen mit den Enden seiner langen Blätter im Gesicht kitzelt.
Ich weiß nicht, wie ich von alldem erzählen soll. Die Gefühle der Robben, ihre Zuneigung und ihr Miteinander sind anders als bei Menschen. Mir bleibt nur, das Grunzen, Locken, Singen, Fliegen und Untertauchen des Robbendaseins mit einer Schicht aus Menschenworten zu überziehen.
Unsere Mums waren unter Wasser mehr zu Hause, als sie es an Land je gewesen waren. Es verlieh ihnen Flügel, wenn man so will. Ohne zu jubeln, zu schwelgen oder zu feiern, schlüpften sie einfach in ihr richtiges Dasein zurück und gingen ihren früheren Beschäftigungen nach. Unsere massigen Mums waren nicht nach Männermaßstäben hübsch, aber mit den Augen einer Robbe betrachtet, waren sie in ihrer soliden Schnelligkeit wunderschön, wenn ihre schwarzen, tränenförmigen Körper blitzartig auf- und abtauchten, sich durch die heimatlichen Gründe wanden. Jede besaß ihren eigenen Charakter, ihr eigenes Muster aus großen und kleinen Flecken, ihre eigene Art und ihren eigenen Gesang – jede Robbe war deutlich als Freund oder Fremder erkennbar.
Die Tage waren lang und strukturlos; die Jahreszeiten lockten uns herbei und stießen uns an ihrem Ende wieder von sich; über uns zogen die Sterne, die bootsförmigen Halb- und bauchigen Vollmonde dahin; die Städte waren verkrustete Körnchen im Augenwinkel unserer Welt, die Menschen darin umherkrabbelnde Milben. Sollte ich meinen Vater während dieser Zeit gesehen haben, so kann ich mich nicht mehr daran erinnern, auch nicht daran, irgendeinen anderen Mann aus Potshead erkannt zu haben, geschweige denn, Potshead selbst! Ich hätte mit Mühe und Not sagen können, ob es die Crescent Cove war, in der ich gerade herumlag oder kämpfte; um einen Ort wiederzuerkennen, ist für eine Robbe die darüberliegende Landschaft nicht von Bedeutung, sondern das ans Meer grenzende Gebiet, die Felsen, Untiefen und nahegelegenen Seetangbänke,
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