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Seeherzen (German Edition)

Seeherzen (German Edition)

Titel: Seeherzen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margo Lanagan
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herunterspielen, sie allenfalls für ein Ärgernis halten; der Rest des Dorfes würde mich meiden oder sich bei meinem Anblick bekreuzigen, und ein paar ältere Leute würden mir weiter Geschenke hinterlegen – klammheimlich, denn ich sollte bloß nicht dahinterkommen, wer mich mit einem Geschenk zu besänftigen versuchte, damit ich meine Magie niemals gegen die Dorfbewohner richtete – aus Rücksicht auf die unbekannten Wohltäter.
    «Ich gehe jetzt zur
Schule
!», rief ich, drehte meiner zeternden Mutter den Rücken zu und drängte mich an meinen Schwestern vorbei. Billy versuchte, mir den Weg abzuschneiden, doch ich rammte ihm mit voller Wucht meinen Stiefel gegen das Schienbein. Mit einem Schmerzensschrei sprang er beiseite; vor Mums Augen konnte er mich nicht zurücktreten. Ich stürzte zur Tür hinaus. Ich wusste, dass es lächerlich aussah, wie ich mit meinem fetten Hintern die Straße hinaufstampfte, doch ich war ja sowieso immer die Lächerliche. Das war meine Rolle bei den Prouts; ich war immer die Kleinste und Dümmste und wurde nur beachtet, wenn man mich piesacken und auslachen konnte, ansonsten zählte ich rein gar nichts.
     
    Ich saß am Rand der Uferstraße und sortierte Muscheln; unten am Strand stolperten noch mehrere Mädchen und ein oder zwei kleinere Jungen auf der Suche nach Muscheln herum. Es war ein klarer Sommerabend, nur im Westen besprenkelte die Sonne die wenigen Wolkenstreifen in fröhlicher Feierabendlaune rosarot.
    Eine Schar Männer aus den Häusern am Meer ging auf dem Weg zu Wholemans Pub an mir vorbei. Ich löste den Blick von meiner Muschelsammlung und sah auf; alle Männer starrten mich an.
    «Na, bei der sieht man doch sofort, wo der Uropa seinen Lümmel reingesteckt hat!»
    Jemand hatte den Kommentar aus dem Schutz der Gruppe heraus abgefeuert und hielt jetzt den Kopf gesenkt, sodass der Schirm seiner Mütze sein Gesicht verdeckte.
    «Prouts», sagte nun ein anderer, mir direkt ins Gesicht. Er hätte niemals so gehässig geredet oder so dreist gegafft, wenn er allein gewesen wäre; doch in Gesellschaft von fünf Männern konnte er einem Mädchen alles an den Kopf werfen, was er wollte.
    «Ja», wagte sich nun ein anderer vor, «die Prouts haben ganz schön mitgemischt, genauso wie die Cawdrons und die Strangleholds.» Der Sonnenuntergang tauchte sie alle von Kopf bis Fuß in tiefes Rot, und ihre Augen funkelten. «Nicht, dass meine alten Leute da mehr drüber wüssten.»
    «Meine auch nicht.»
    «Nee, meine auch nicht.»
    Ich biss mir auf die Lippen und zog sie nach innen, wandte mich dem Sonnenuntergang zu. Ich wünschte mir, ich könnte die Sonne dort oben sein, den Himmel blutrot baden und mein gigantischer, brennend heißer Verstand bliebe unberührt von kleinlichen Angelegenheiten wie männlichen Feindseligkeiten und der Demütigung eines Mädchens.
Prouts
. Dieser Abscheu in seiner Stimme.
Die Prouts haben ganz schön mitgemischt.
Auch Gertys gewichtiger Tonfall kam mir wieder in den Sinn:
unsere größte Schande
. Das war wohl der Schlüssel zu den mehrdeutigen Bemerkungen, die ich in den letzten Jahren in der Schule und im Dorf aufgeschnappt hatte, der Schlüssel zu den vielsagenden Blicken und dem unterdrückten Lachen, zu den Hunderten von Vorkommnissen, deren Bedeutung ich bisher nicht verstanden hatte.
Prouts haben ganz schön mitgemischt, Cawdrons, Strangleholds.
Mit einem Schlag traf mich die Erkenntnis, warum Mum immer so wütend war. Ganz Potshead war zweigeteilt: in diejenigen, die sich früher mit den Robbenfrauen eingelassen hatten, und diejenigen, die es nicht getan hatten. Mums Familie hatte zu letzterer Kategorie gehört, und sie hatte in die andere eingeheiratet. Vielleicht hatte es ihr damals nichts ausgemacht, aber jetzt machte es ihr etwas aus, und zwar ganz entschieden. Es sprach aus jeder ihrer bissigen Bemerkungen, jeder ihrer ungeduldigen Gesten.
    Ich wandte mich vom Sonnenuntergang ab, dessen größtes Strahlen gerade verblasste. Die Männer halfen sich per Räuberleiter auf den oberen Pfad hinauf, der als Abkürzung zur Totting Lane führte. Sie waren schon ein ganzes Stück von mir entfernt, nur noch kletternde, lachende Schatten und hatten mich schon wieder vergessen.
    Prouts
. Blass und trocken lagen die Muscheln, die ich gesammelt hatte, auf den Pflastersteinen vor mir. Warum hatte ich sie überhaupt alle mit nach oben gebracht? Warum waren sie mir so wundervoll vorgekommen, dass ich sie hatte sammeln, sortieren und mit nach Hause nehmen

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