Seeherzen (German Edition)
wandten sich meine Geschwister von mir ab und verließen eines nach dem anderen das Nest. Billy machte sich bei der ersten Gelegenheit aus Rollrock davon. Er schickte uns eine kitschige Karte mit zwei koketten «Spanischen Flamencotänzerinnen», doch sie trug den Poststempel einer französischen Hafenstadt, keiner spanischen. An diesem Hafen, schrieb er, legten die «richtigen Schiffe» ab, auf denen er arbeitete. Was für einer Art Arbeit er nachging, erwähnte er nicht, aber er sprach eindeutig nicht von Fischerbooten; dafür war er sich zu fein.
Mum war nun sogar noch wütender – der Anblick der Flamencotänzerinnen erfüllte sie jedes Mal mit Abscheu, und damit sie uns nicht ständig mit ihrem süffisanten Grinsen bedachten, drehte Mum die Karte mit Billys krakeliger Nachricht nach vorn und stellte sie auf ein Brett an der Garderobe. Dad gegenüber durfte man Billy gar nicht erwähnen; er wandte sich nur wütend ab. Ich sah ihn keine einzige Träne vergießen, doch wenn ihm ein anderer Mann erzählte, was sein Sohn erreicht und womit er ihn stolz gemacht hatte, bekam er hektische rote Flecken um die Augen. Mit verkniffenen Lippen blickte er an seinem Gesprächspartner vorbei und suchte nach einem unverfänglichen Thema.
Ich war froh, dass Billy weg war. Aus dem wilden Jungen war ein bulliger, schlechtgelaunter junger Mann geworden; wenn er nur ein bisschen getrunken hatte, suchte er sofort nach Streit, und wenn er dafür draußen niemanden fand, kam er wieder zu uns nach Hause, um uns zu beschimpfen und zu verspotten. Und sobald eins von uns Mädchen es wagte, ihm etwas an den Kopf zu werfen, nahm Mum ihn jedes Mal in Schutz. Es schien beinahe so, als gefielen ihr seine Gemeinheiten, als teilte er stellvertretend für sie all diese Beleidigungen aus, weil ihr selbst dafür der Mut fehlte.
Meine Schwestern jammerten trotzdem unentwegt über den tragischen Verlust unseres Bruders, sowohl untereinander als auch in Mums Gegenwart. Sie schienen es zu genießen, Mum zum Weinen zu bringen, um dann ihre eigene Gutherzigkeit zur Schau stellen zu können, indem sie sie trösteten. Ihre Theorien über das, was Billy so trieb, entbehrten jeglicher Grundlage – niemand außer Dad hatte die Insel je verlassen oder wusste etwas über die weite Welt dort draußen. Doch das hielt sie nicht davon ab, sich ihre Meinung zu bilden und diese kundzutun oder jedes noch so winzige Gerücht, das sie aufschnappten, weiterzutuscheln.
Ich dachte, so würde es in unserer Familie für immer weitergehen – meine Schwestern würden mich ignorieren, wenn sie mich nicht gerade ermahnten, mich gerade zu halten, den Mund zu schließen und zu
lächeln, Herrgott noch mal!
, Mum würde sich weiterhin mit ihnen gegen mich verbünden, Dad mit hochgezogenen Augenbrauen und gerecktem Kinn an uns vorbeilaufen und Billy für immer verschwunden bleiben.
Doch dann erschien ein Mann auf der Bildfläche, ein Anwalt – oder zumindest ein angehender Anwalt, eine Art Anwaltsgehilfe. Er machte einen Tagesausflug von Cordlin nach Rollrock, und Ann Jelly stach ihm zwischen all den anderen direkt ins Auge. In dem Moment, in dem sein Blick auf sie fiel, war unsere Schwester zu unserer Überraschung mit einem Mal wie verwandelt. Wie eine grüne Knospe erblühte sie zu einer farbenfrohen Blume mit plustrigen Blüten, lächelte und lachte, was sie vorher nur selten getan hatte. Sie bezauberte uns alle, nicht nur den hagergesichtigen Hurtle mit seinen mühselig artikulierten Silben und dem steifen Kragen, der seinen Kopf aufbockte.
Er umwarb sie größtenteils per Brief, doch ein- oder zweimal setzte er auf die Insel über, und an einem Sonntagabend leistete er uns bei einem verkrampften Essen Gesellschaft.
«Sitz still, Misskaella!», sagte Mum, obwohl ich nicht unruhiger am Tisch saß als alle anderen um mich herum, abgesehen von Ann Jelly, die in ihrem erblühten Zustand souverän an der Seite ihres zukünftigen Anwalts saß.
«Misskaella – das ist aber ein außergewöhnlicher Name», bemerkte das Hagergesicht. «Was bedeutet er denn?»
Erstaunt blickten mich alle an.
Ann Jelly sagte gespielt nachdenklich: «Die mit der unmöglichen Haltung?», woraufhin alle in Gelächter ausbrachen.
«Die mit dem Sauregurkengesicht», schlug Bee vor und hatte nun die Lacher auf ihrer Seite.
Mums Blick wanderte von ihren gackernden Töchtern zu Dad, der mit seinem Essen beschäftigt war, und schließlich zu Mr. Hurtle, der mich freundlich ansah, während mein
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