Seeherzen (German Edition)
Ladentheke. Mrs. Fisher und Blair Gower blickten mit gutmütigem Gesichtsausdruck zu uns herüber.
«Ein bisschen Tee, bitte, wenn Zeit dafür ist.»
Sobald Gower zur Tür hinaus und Mrs. Fisher im Hinterzimmer verschwunden war, warf mir der alte Fisher einen stechenden Blick zu und raunte: «Mädchen, ich weiß nichts von alldem, gar nichts.»
Ich glaubte ihm nicht; niemand, der so alt war wie er, konnte
gar nichts
wissen. Ich wartete ab, ob er doch noch etwas sagen würde, doch er ignorierte mich einfach, und dann musste ich beiseitetreten, um Mrs. Fisher mit dem klirrenden Teegedeck durchzulassen. Sie machte ein großes Gewese darum, den Tee da abzustellen, wo der alte Mann ihn haben wollte, warnte ihn, der Tee sei heiß, woraufhin sie sich von ihm anhören durfte, er sei schließlich kein Trottel, und während dieser ganzen Prozedur verließ mich der Mut und ich stahl mich zwischen den Reihen aus Säcken und Fässern davon.
«Mädchen!», rief Mrs. Fisher, die bereits wieder geschäftig zurück hinter die Ladentheke geeilt war, «Komm mal her!»
Sie öffnete die Ladenkasse und nahm eine Münze heraus, die silbern glänzte. «Er sagt, ich soll dir einen Schilling geben.»
«Einen Schilling?» Ich war so erstaunt, dass ich fast vergaß, was ein Schilling war. Der Klang des Wortes sprang aus meinem Mund heraus, und die Münze schwebte glänzend vor mir. Ich schämte mich in Grund und Boden. Wie sollte ich die Münze vor Billy und meinen Schwestern verstecken, vor Mum und Dad? Und jetzt wusste auch noch Mrs. Fisher Bescheid. Sie mochte zwar nicht wissen, warum ihr angeheirateter Urgroßvater so großzügig war, doch ihr war bestimmt klar, dass er nicht jedem dahergelaufenen Kind einen Schilling schenkte. Ich war gebrandmarkt; sie wusste jetzt, dass etwas mit mir nicht stimmte – wie vielen Leuten sie davon wohl erzählen würde?
Ich schüttelte den Kopf.
«Er besteht darauf, meine Liebe», sagte sie unwirsch. «Nun nimm schon.» Sie fuchtelte mit der Münze in der Luft herum. Sie lächelte nicht, runzelte auch nicht die Stirn, aber ihre Blicke durchbohrten mich. Wenn ich mich weigerte, das Geld anzunehmen, oder einfach wegrannte, würde sie mich für noch seltsamer halten. «Ich beiß dich schon nicht. Da hast du sie.» Damit lag das Ding kalt in meiner Hand – nur an den Stellen, an denen Mrs. Fisher die Münze so lang festgehalten hatte, war sie warm. «Nun lauf und versteck sie.»
Langsam, wie betäubt, schleppte ich mich durch den feinen grauen Regen die Stadt hinauf. Was hatte ich getan, was hatte ich über mich gebracht? Zurück daheim, ließ ich den Schilling in den Vorderfuß eines Cordlin-Söckchens gleiten. Er fühlte sich an wie gestohlen, derart ungute Gefühle waren damit verbunden. Allein die Tatsache, dass es sich um einen ganzen Schilling handelte, brachte mich ganz durcheinander; bisher war ich nur mit Viertel- und Halb-Penny-Münzen in Berührung gekommen. Die Unmengen von Süßigkeiten, die ich mir damit kaufen konnte, waren für mich kaum vorstellbar, und als es mir schließlich doch gelang, wurde mir klar, dass ich eine so große Menge auf keinen Fall verstecken oder allein essen konnte. Und wenn ich die Süßigkeiten mit jemandem teilte, würde derjenige wissen wollen, wie ich zu einem solchen Festessen gekommen war, er würde von Mr. Fishers Geschenk erfahren und sich fragen, wie sehr ich ihn belästigt haben musste, dass er mich so großzügig bezahlt hatte, um seine Ruhe vor mir zu haben.
Ich war eine Weile nicht unten in der Crescent Cove gewesen. Nach Amblers Besuch, dem Cordlin-Krapfen, den Socken und dem Schilling fühlte ich mich von aller Augen verfolgt.
Doch die Robben fehlten mir, sosehr ich mich auch dafür geschämt hatte, dass sie mir bis nach Hause gefolgt waren. Jedes Mal, wenn ich die überkreuzte Bandage abnahm, um mich zu waschen, spürte ich inmitten des Emporquellens der Erde und des Meeres die Gewissheit, dass die Herde dort war – wie ein Jucken in meinem Verstand. Als die Robben im Herbst davonschwammen, ließ das Gefühl nach, doch als sie sich im darauffolgenden Frühling wieder in der Crescent Cove versammelten, stellte es sich wieder ein.
Als meine Schwestern vorschlugen, zur Jungtierkolonie hinunterzugehen, dachte ich, ich könnte es wohl wagen, sie zu begleiten. Ich trödelte absichtlich hinter ihnen den Feldweg entlang, um nicht zu begierig zu wirken. Als ich neben ihnen oben auf den Klippen stand, biss ich mir auf die Lippen, um nicht
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