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Seeherzen (German Edition)

Seeherzen (German Edition)

Titel: Seeherzen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margo Lanagan
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ob dort ein Geschenk lag, und an den meisten Tagen war sie glücklicherweise leer. Doch einmal fand ich ein Stofftaschentuch mit Spitzenumrandung und den mühevoll eingestickten Initialen MP , das ich hastig an mich nahm. Ein anderes Mal stand dort ein blitzender spitzer Zahn, als wäre er aus der Treppe herausgewachsen; der Größe nach zu urteilen, hatte er einem Wal gehört. Jemand hatte ein Bild in den Zahn geritzt und schwarze Farbe hineingerieben, um die Gravur sichtbar zu machen – eine Kopie der Frau auf der Klostermauer, die ihr Robbenfell abstreift.
    Ich ließ das Tuch in meiner Tasche verschwinden, doch der Walzahn war so schwer, dass ich zurück ins Haus schlich und ihn ganz hinten in meiner Schublade bei den Socken und dem Schilling versteckte. Als ich einmal allein im Zimmer war, holte ich den Zahn aus der Schublade und betrachtete ihn. Ich stellte fest, dass eine zweite Frau in die Seite des Zahns geschnitzt worden war – eine vermummte Gestalt mit faltenzerfurchtem Gesicht, die um die Rundungen des Walzahns herumgriff und ihre Klauen nach der Robbenfrau ausstreckte. Eine Linie verlief einmal quer um den Zahn herum und stellte den Horizont dar; am Himmel prangte ein Vollmond – er war der gelungenste Teil der gesamten Schnitzerei, insbesondere seine zerfurchte Oberfläche. Wer auch immer ihn hineingeritzt hatte, musste selbst unter dem Mond gesessen und ihn in dessen Schein Strich für Strich nachgebildet haben.
    Es verging eine gewisse Zeit, in der keine Geschenke für mich eintrafen. Ich hoffte im Stillen, dass der Walzahn in seiner geheimnisvollen Großartigkeit den Höhepunkt und das Ende der Geschenke bedeutete, da es nichts Exotischeres oder Kostbareres geben konnte. Ich stellte mein morgendliches Ritual ein.
    Doch im Spätfrühling hatte jemand einen Strauß Kornblumen hinterlegt, der mit einer blauen Schleife umwickelt war.
    «Ooh, ooh!», riefen die Mädchen, als Bee morgens mit den Blumen in der Hand zur Tür hereinkam. «Misskaellas Liebster war wieder da!»
    «Nimm sie, Miss! Sie sind für dich! Siehst du? Da steht ein ‹M›, für Misskaella.»
    Doch als Bee mir die Blumen zuwarf, verschränkte ich die Arme hinter dem Rücken. Die zittrigen Kringel des altmodischen «M», das mit Bleistift auf einen Papierfetzen gezeichnet worden war, sahen aus wie ein Stück aufgeribbelter Faden, der sich aus dem Angstknäuel in mir herausgelöst hatte; die Blumen sträubten sich vor mir. «Ich will sie nicht.»
    «Jetzt nimm sie schon!», drängte Tatty nun lauter. «Wir müssen los!»
    «Und was soll ich damit?»
    «Mir doch egal – von mir aus kannst du sie ruhig zertrampeln!» Damit rauschte sie an mir vorbei und warf mir draußen vom Weg einen zornigen Blick zu.
    Der Lärm hatte Mum angelockt. Sie entriss Bee den beschämenden Blumenstrauß, die mich damit an die Wand gedrückt hatte und sich an meinem Unbehagen weidete. «Sie nimmt ihn einfach nicht», jammerte Bee.
    «Das sollte sie auch nicht. Geschenke von einem Unbekannten!» Beim Anblick des Buchstabens runzelte Mum die Stirn, dann betrachtete sie die Rückseite des Papierfetzens. Das «M» ragte wie die verdrehten Beine einer toten Spinne zwischen ihren Fingern hervor.
    «Es ist aber nicht von einem Unbekannten», sagte Bee. «Es ist von irgendeinem alten Mann, den wir kennen. Wir wissen nur nicht, von welchem.»
    «Ich glaube,
ich
weiß, wer er ist», spottete Tatty von draußen. «Es ist Grusel-Arthur Baitman, der immer bei Wholemans Pub rumlungert.» Während sich die anderen vor hämischem Lachen schüttelten, sagte Tatty mit einem Nicken zu mir: «Er glaubt wohl, bei dir landen zu können, Missk.»
    «Ich hab’s so satt, dass ihr immer alles in den Dreck ziehen müsst!», schrie ich. «Es sind nur
Blumen
. Sie könnten von irgendeiner verrückten Grandma sein, die Mitleid mit mir hat, weil ich mit euch zusammenleben muss, ihr fiesen
Schlangen

    Mein ungewohntes Gebrüll ließ sie alle zusammenfahren.
    Nur Tatty ließ mein Gefühlsausbruch kalt. «Tja, es ist nicht so, dass die Person dich
mag
, Missk, mach dir bloß keine falschen Hoffnungen. Sie hat nur Angst vor dir und davor, dass du die Robben wieder in die Stadt lockst.»
    Mum schrie Tatty und mich an, doch was sie sagte, drang nicht bis zu mir durch, weil Tattys Worte noch in meinem Kopf dröhnten. Welche Macht ich auch immer besaß, Tattys Gesicht, all ihre Gesichter, verrieten mir, dass ich mir damit keine Freunde machen würde. Meine Familie würde meine Gabe

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