Seeherzen (German Edition)
vorzuschlagen, zu den Robben runterzugehen und uns ihre Babys aus der Nähe anzusehen. Doch Grassy sprach meine Gedanken aus, und wir machten uns an den Abstieg.
Unten angekommen, hüpften Ann Jelly und Tatty über die Felsen. Wir anderen standen am Fuße des Pfads, und Bee rief den beiden Warnungen zu, während Grassy und Lorel sie anfeuerten: «Los, geht hin und streichelt eins! Schnappt euch ein Baby, wir nehmen es mit!»
Ich saß auf der breiten Stufe, in die der Pfad mündete, und beobachtete das silbrig-blaue Wischen des Ozeans. Als mir alle Schwestern den Rücken zuwandten, lockerte ich den Knoten, mit dem die Bänder auf meiner Schulter zusammengehalten wurden, blickte die Robben eindringlich an und gab mich ihnen zu erkennen. Sie bäumten sich auf, bereit, auf mich zuzustürmen. Meine Schwestern, die ihnen am nächsten standen, kreischten bei dem plötzlichen Aufruhr los und dachten, die Aufmerksamkeit gelte ihnen, weil ich verdeckt hinter ihnen stand. Tatty und Ann Jelly stimmten in das Gekreisch ein und hasteten zurück zu uns, um den aufgeweckten Robben auszuweichen.
Während meine Schwestern schrien und lachten, knotete ich die Bänder wieder fest zusammen. Ich hatte gesehen, was ich sehen wollte. Jede Robbe war von etwas durchzogen, das ich für zufällig verteilte Lichter gehalten hatte, die alle dieselbe Funktion besaßen und eins so hell wie das andere strahlten. In Wahrheit stellten sie im Ansatz vorhandene Teile des menschlichen Systems dar. Größere, hellere Leuchtknospen waren in den Gelenken der Robben verankert. Kleinere, blassere Sterne schwebten – vielleicht wegen der zarten Haut und des weichen Fells – näher unter der Oberfläche, bis in die Spitzen der Schwimm- und Schwanzflossen hinein, und sogar in den Barthaaren der Robben sah ich einige funkeln. Dazwischen schwammen mittelgroße Leuchtknospen, und in ihren Zwischenräumen geisterten beinahe unsichtbare Lichter herum, die vermutlich eine konzentrierte Form von Verstand, Geist oder Gefühlen darstellten. Bei noch genauerem Hinsehen – doch die aufgeregten Bewegungen der Robbenherde hätten mich verraten, wenn ich noch länger hingeschaut hätte – wäre zu erkennen gewesen, wie und auf welchen Wegen sie alle zusammengeführt werden mussten, um zu einer vollständigen menschlichen Form zu verschmelzen. Zum jetzigen Zeitpunkt konnte ich nur sehen, dass ein System dahintersteckte – und dass es sich um ein lückenloses System handelte, mit dem innerhalb einer Robbe eine Frau erschaffen werden konnte. Jede einzelne dieser Knospen oder Sterne, dieses Flimmerns oder dieser Geister musste erfasst und zum Zentrum dirigiert werden. Ich begriff das volle Ausmaß des vor mir liegenden Unterfangens und wie kompliziert es werden würde.
Doch es konnte vollbracht werden. Und das Sehen allein hatte bereits etwas in mir bewirkt, hatte auch in mir ein knospendes Etwas hervorgelockt, die Lichter und Linien einer kühneren und gelasseneren Misskaella, deren großes Potenzial in meiner dicklichen, wenig verheißungsvollen Gestalt versteckt umherschwebte. Wenn ich die Robben genau studieren und es mir gelingen würde, alle Lichter innerhalb der Robben zusammenzuführen, konnte ich diese neue Misskaella so sicher zum Leben erwecken, wie aus der wabbeligen Materie der Robben Frauengestalten entstehen würden.
«Seht euch Missk an!», erklang Tattys Stimme aus der Gruppe meiner Schwestern. «Sie steht unter dem Bann dieser Robben!»
«Ach, wärst du auch gern eine Robbe, Missk?», hänselte Bee.
«Die richtige Figur dafür hat sie ja», sagte Grassy Ella.
«Wie fies!», rief Lorel und schubste Grassy vom Felsen, konnte sich das Lachen aber selbst nicht verkneifen.
Grassy plumpste in ein seichtes Wasserbecken und lenkte die anderen mit ihrem Gejammer ab. Ich war erleichtert, dass ihre Blicke nun nicht mehr auf mich gerichtet waren. So merkten sie nicht, dass Grassys Beleidigung mir einen Stich versetzt hatte und, was noch schlimmer war, dass Tatty mit ihren Worten ins Schwarze getroffen hatte und mir beides zusammen die Schamesröte ins Gesicht trieb. Die überkreuzten Bänder mochten mich zwar vor der Liebe der Robben schützen, doch den bissigen Bemerkungen meiner Schwestern war ich ebenso schutzlos ausgeliefert wie zuvor.
Eine Zeitlang huschte ich morgens auf dem Weg zum Klohäuschen seitlich am Haus entlang und mit eingezogenem Kopf unter den Fenstern durch, damit mich niemand sah. Ich sah auf der Treppe vor dem Hauseingang nach,
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