Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Seeherzen (German Edition)

Seeherzen (German Edition)

Titel: Seeherzen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margo Lanagan
Vom Netzwerk:
mit vollem Mund, als würde sie gar nicht merken, wie sehr sie seine Geduld schon auf die Probe gestellt hatte. «Mir hat schon der Magen geknurrt, bevor ich überhaupt losgegangen bin.»
    «Du weißt auch nicht alles», sagte er leise.
    «Hab ich das behauptet?»
    «Du benimmst dich so. Wie immer. Du hältst dich wohl für oberschlau! Und du glaubst, Nase und ich sind zu blöd, um irgendwas vor dir geheim zu halten, stimmt’s?»
    «Na ja, Nase ist das ja wirklich großartig gelungen.» Sie hatte kein bisschen Angst. War es ihr vielleicht egal, wenn sie ihn so weit aufstachelte, dass er sie schlug?
    Dad knurrte irgendetwas; erst einen Moment später hörte ich die Worte heraus: «Du würdest also Schande über unseren Sohn bringen, ja?» Seine Stimme klang gepresst, weil er sich Mum so weit entgegenbeugte.
    Sie wich weder zurück, noch machte sie sich klein. «So wie ich es sehe, hat er
selbst
Schande über sich gebracht.»
    «Und würdest du auch über
mich
Schande bringen?» Er stützte die Handflächen auf die Tischplatte, hatte die Schultern wieder bis auf Ohrenhöhe hochgezogen.
    Sie lachte zaghaft. Er hatte sie verunsichert. Ein kurzer Moment des Schweigens verstrich. «Wenn du das Gleiche machen würdest wie er, würdest du auch genau wie er
selbst
Schande über dich bringen.»
    Ruckartig stemmte er sich vom Stuhl hoch wie eine Spinne, die sich auf ihre langen Beine aufbockt, und schlich um den Tisch herum. Ein freudloses Grinsen überzog sein Gesicht; er sah vollkommen fremd aus. Er packte Mums Oberarm. «Lass sie los!», schrie ich, sprang neben sie und ergriff ihren anderen Arm.
    Doch: «Pst!», machte Mum, sah ihn an, erhob sich von ihrem Stuhl und ging, wo er sie hinzog, langsam und widerstrebend zwar, aber sie ließ sich trotzdem mitziehen. Ich klammerte mich an ihr fest und folgte ihr. Mit Gewalt schleifte er uns durch die Spülküche zum Hinterausgang, vom warmen Licht der Laterne nach draußen, wo der Mond alles mit heller Glasur überzog. Wir überquerten die mondbeschienenen Steinplatten, die zu seinem Werkzeugschuppen führten. Er ließ Mum los, und ich drückte mich ganz nah an sie, hielt mich zitternd an ihr fest. Mit verzerrtem Grinsen und aufgerissenen Augen öffnete mein Vater den Schuppen und trat rückwärts hinein. Vor einigen Wochen hatte er an der Längsseite einen Schrank gebaut. Ich hatte ihm dabei zugesehen. Die Schranktür ging zur Rückseite des Schuppens auf; ich hatte ihm gesagt, wie dumm das war.
So fällt doch überhaupt kein Licht rein
, hatte ich gesagt.
Du wirst darin nie was wiederfinden!
Er hatte nur gelächelt und getan, was er für richtig hielt, und nun verstand ich, warum. Er hatte nur eine einzige Sache an diesem sicheren neuen Ort aufbewahren wollen, und er brauchte kein Licht, um sie zu finden. Er streckte die Hand in den Schrank und zog sie vor unseren Augen an der schmalen weißen Hand heraus.
    «Komm raus, Helena-Grace», sagte Dad nun mit sanfterer, traurigerer Stimme. Mum zuckte zusammen und fing an zu zittern; ich klammerte mich noch fester an sie. Ich kniff die Augen zusammen, als könnte ich die Frau einfach verschwinden lassen, indem ich nicht hinsah, während sie herauskam. Ihr sommerlicher Meeresduft quoll aus der Schuppentür zu uns herüber; Mum und mir verschlug es den Atem, so herrlich war ihr Geruch, so abscheulich.
    «Den können wir jetzt zumachen», sagte Dad zu seiner Robbenfrau. «Da musst du nie wieder rein.»
    Jetzt kam es mir grausam vor, die Augen zuzukneifen und Mum den Anblick allein ertragen zu lassen; außerdem kündete der Duft von Reinheit, von Horizonten, vom Himmel, Hinfortfliegen, Herausschweben, von einem freieren und frischeren Leben als dem, in das wir bisher eingepfercht gewesen waren. Ich öffnete die Augen und blickte mich um, zugleich voller Hoffnung und Entsetzen.
    Dad stand neben uns und grinste noch immer vor sich hin, saugte Mums Schmerz in sich auf. Die Meerdame betrachtete uns gelassener. Aus dem Wasserfall ihrer Haare blickte eine Brust hervor; zwischen ihren Beinen wuchs ein Fleck Schwärze, der sich ebenso wenig wie die Brust darum sorgte, dass er eigentlich verborgen sein sollte. Sie war schmal gebaut, doch die Kurven, die sie besaß, waren vollkommen, und auch ihre Schmalheit war reizvoll, ihre Handgelenke und Hände, die Knöchel, der Hals. Sie hatte ein ebenso schönes Gesicht wie Nasebys Meermädchen und schaute ebenso unschuldig wie sie, war sich offenbar genauso wenig darüber im Klaren, was sie unserer Mum,

Weitere Kostenlose Bücher