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Seeherzen (German Edition)

Seeherzen (German Edition)

Titel: Seeherzen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margo Lanagan
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auf der Nordmole. Der Wind trug die ersten Spuren winterlich-beißender Kälte mit sich; zu drei Seiten umtoste und umwogte uns das Wasser.
    Ich hatte Harvey Newsom zu Boden geworfen und saß auf ihm drauf. Vom Gewicht her war ich ihm nicht gerade überlegen, aber er hatte mir eine Kopfnuss verpasst, und darum kochte ich vor Wut. Außerdem lachte er mich aus – was mir noch mehr Kraft verlieh und ihn schwächte. Seine hellroten Wangen und orange Locken hoben sich leuchtend von den feuchten schwarzen Pflastersteinen ab. Er schleuderte mir jede Menge Beleidigungen entgegen:
Misthaufen, Katzenfutter, Fischbrut
. Sein Mund war das reinste Durcheinander von halb herausgewachsenen Zähnen, so wie bei uns allen in letzter Zeit. Ich hockte über ihm, hatte ihn am Hemd gepackt und drückte seine Schultern immer wieder auf den Boden.
    Dann war er plötzlich still und sah mich aus seinen wässrigen Augen durchdringend an. Offenbar fiel ihm eine neue Beleidigung ein, denn er zögerte, dann ließ er alle Vorsicht fahren. «Dein Dad ist so alt wie ’n Grandpa», sagte er. «Und deine Mum hat Haare wie ’n Mann und den fettesten Hintern von ganz Potshead.»
    Von diesem Moment an war meine Größe egal: Ich drosch auf ihn ein und hörte nicht mehr damit auf. Seine Worte verliehen mir Kraft und Größe, machten mich zu einem erbarmungslosen Schläger mit messerscharfem Blick für ungeschützte Stellen, in die ich meine Fäuste, Füße und Knie hineinrammte. Zunächst lachte er noch triumphierend, weil er es geschafft hatte, mich in Rage zu bringen; doch dann musste er sich in Deckung bringen, um weiterzulachen – und als er sah, wie viel Wut sich in mir angestaut hatte und noch herausgeprügelt werden wollte, winselte er schließlich um Gnade.
    Ich hatte zwar nicht das Gefühl, schon mit ihm fertig zu sein, aber ich spürte auch, wie mir die Tränen kamen, und außer Mum durfte mich niemand weinen sehen. Ich sprang auf, versetzte ihm als Draufgabe noch ein paar Tritte und lief über die Mole davon. Seine Worte brannten wie Feuer in mir, knisterten und knackten selbstzufrieden vor sich hin.
    Bevor Harvey es mir aus seinem Fettgesicht entgegengespuckt hatte, war mir tatsächlich noch nie aufgefallen, wie klein und rund meine Mum aussah, während alle anderen Mütter groß und schlank waren; dass ihre Haare nicht schwarz und seidig glatt waren wie die der anderen Mütter, sondern rot gelockt – wie die Haare der Männer, wenn sie sie wachsen ließen; dass Mums Haut in der Sonne sofort genauso sommersprossig wurde wie Dads, statt sich honiggold zu färben wie die Haut der meisten anderen Mums im Sommer. Erst als ich die Straßen hinauflief und spürte, wie sich ein Schluchzen in meiner Kehle anstaute, wurden mir diese Unterschiede wirklich bewusst, und es erschreckte mich, dass man sie gegen mich verwenden konnte. Und warum
sah
Mum überhaupt so anders aus? Warum
war
ihre Art, zu kochen, zu reden oder die Hausarbeit zu machen, so anders als die der anderen Frauen?
    Ich rannte bergauf nach Hause. Ich stürzte zur Tür hinein und direkt zu Mum in die Spülküche, wo sie vor dem Becken stand und abwusch; ich warf mich gegen ihren Hintern, als könnte ich ihn so für immer vor Harvey Newsoms Sticheleien schützen; ich schlang die Arme um ihre Taille und vergrub das Gesicht in ihr. Mir war kalt, der Wind hatte mich durchgepustet, und in mir tobten Wut und Angst; sie war warm und fest und roch nach Zuhause.
    «Du meine Güte! Was ist denn mit dir los?» Sie brachte den Teller, den sie gerade spülte, in Sicherheit, dann legte sie mir die warme feuchte Hand auf den Kopf, während sie sich in meiner Umklammerung herumdrehte. «Hast du dir wehgetan, Dominic?»
    Ich schüttelte in ihrer kissenartigen Vorderseite den Kopf.
    «Was denn dann? Hat dich jemand ausgelacht oder beleidigt?» Obwohl sie ganz offensichtlich Mitleid mit mir hatte, brachte meine leidenschaftliche Reaktion sie ein wenig zum Lachen.
    Ich schüttelte den Kopf noch heftiger. Noch fester hätte ich mich nicht an sie klammern können. Ich wusste nicht, was ich lieber wollte – mich in ihr verstecken oder sie so klein schrumpfen, dass sie in meine Hosentasche passte, wo ich sie für immer vor den Gemeinheiten oder dem gehässigen Lachen der Jungs beschützen konnte.
    «Hat
mich
jemand beleidigt?», fragte sie noch amüsierter.
    Ich machte mich von ihr los und blickte sie mit offenem Mund an. Woher wusste sie das? Und wieso machte es ihr nichts aus?
    Mir schossen Tränen in

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