Seeherzen (German Edition)
ansonsten aber allem Anschein nach einen ganz normalen Abend verbrachte.
Dad drehte sich auf seinem Stuhl so weit um, dass er mich über die Schulter sehen konnte. «Geh ins
Bett
», sagte er, als wäre mein Anblick der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt.
Mum blickte mich unbeirrt an. «Sie kann es ruhig hören; sie können es ruhig
alle
wissen. Weck deine Schwester auf, Bet. Hol die Jungs aus den Federn.»
«Wag es ja nicht», zischte Dad.
«Und dann geht raus auf die Straße und brüllt es durch das ganze Dorf. Schreit es in die ganze Welt hinaus.»
Dads Schultern erschlafften, kopfschüttelnd drehte er sich um, um sich wieder mit Mum auseinanderzusetzen. Hasserfüllt funkelten sie sich an, ich schob mich weiter in die Küche hinein und warf noch einen Blick zurück in den Flur, um zu sehen, ob Nase mit seinem Mädchen nachkam.
Aber nein. Noch nie hatte ich zwei so ineinander verschlungene Menschen gesehen; und ganz sicher hatte ich nie gesehen, dass Nase Sophie jemals so fest umschlungen hielt.
«Sieh mal», sagte Dad hinter mir zu Mum, als wollte er ihr Gespräch in vernünftigere Bahnen lenken. «Sieh mal, der Junge weiß, dass er was Falsches getan hat – schau ihn dir doch mal an! Sie kann morgen früh verschwunden sein, dann ist der ganze Spuk vorbei, und er hat seine Lektion gelernt.»
«Und Sophie hat nichts mitgekriegt», sagte Mum mit lebloser Stimme.
«Und Sophie hat nichts mitgekriegt!», rief er, als wäre das eine wunderbare Lösung.
«Nur du und ich und Nase und Bet hier wissen was.»
«Nur wir! Und keiner von uns würde je –»
«Ach, und was glaubst du, wer alles davon erfährt, wenn Nase sich am Schnaps vergreift und ihm die Seele aus dem Mund purzelt und auf dem Tisch landet? Wer weiß dann alles Bescheid? Wer ist zufällig dabei?»
«Das muss nicht passieren, Nance. Ich sag doch, ihm ist völlig klar, wie schwer die Folgen –»
«Und was ist mit
ihr
?» Sie nickte in meine Richtung. «Wenn die Mädchen untereinander Geheimnisse austauschen und sie hat diese hübsche pikante Geschichte parat? Wer wird dabei sein? Welche anderen Plappermäuler?» Ich war beleidigt, aber sie hatte recht – sie kannte uns Mädchen und wusste, worüber wir alles redeten.
«Dann musst du’s ihr eben verbieten, Nance. Hämmer’s ihr ein. Nichts davon muss passieren, sag ich dir!»
«Ich werde nicht den Rest meines Lebens auf glühenden Kohlen rumsitzen und hoffen, dass es nicht rauskommt, du etwa? Oh, du schon, das seh ich dir an, du Dummkopf!»
«Was willst du damit sagen? Sollen wir Sophie vielleicht herholen, damit sie’s mit eigenen Augen sieht?»
«Hab ich das gesagt?»
«Sollen wir zu ihr hochmarschieren – ist es das, was du willst? Er und das Mädel – oder warum nicht gleich die ganze Familie? Sollen Geedre und die Jungs auch mitkommen?»
«Das hab ich auch nicht gesagt. Ich hab nur gesagt, dass Sophie es erfahren muss. Wie, ist mir egal, aber ich werde nicht zulassen, dass das hier einfach unter den Teppich gekehrt wird. Ich hab meinen Teil der Aufgabe erledigt, den Rest müsst ihr unter euch ausmachen.» Ihr Löffel fuhr durch die Brühe, klimperte wieder gegen die Schüssel.
Vom Geruch des Meermädchens noch ganz benommen, ging ich zum Türrahmen und lehnte mich dagegen. Ich schloss die Augen, und alle Menschen um mich herum verschmolzen mit dem Meeresgeruch: Geedre, die flach wie ein schlafender Fisch an der angrenzenden Wand lag; Dad und Mum, die zu beiden Seiten des Tisches saßen, der einem Fels in der Brandung oder der Flanke eines gesunkenen Schiffes glich; Nase und sein Mädchen dort, die sich wie zwei verschlungene Seegrashalme in der Strömung neigten. Ich öffnete die Augen, bevor ich noch ganz unterging, und nahm wieder das Haus um mich herum wahr, die Wände, die Luft, die Blechfotografie von Urgroßmutter Winch, die übellaunig wie immer in ihrem Korbsessel saß.
Jetzt spie Dad Mum fast ins Gesicht: «Wie
hochnäsig
du da sitzt!» Diesen bedrohlichen Tonfall hatte ich noch nie bei ihm gehört. Angst kroch mir den Rücken hoch. Ob er Mum schlagen würde? Ich hatte von Vätern gehört, die Mums schlugen. Ich drehte mich im Türrahmen um, damit ich auf ihn zulaufen und ihn packen konnte, falls er es versuchen sollte.
«Ich bin nicht hochnäsig», sagte Mum ruhig. «Glaubst du etwa, mich macht das glücklich?» Sie riss sich etwas Brot ab und steckte sich ein Stück in den Mund.
«Stopfst dich hier voll», sagte Dad.
«Ich hatte Hunger», sagte sie
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