Seeherzen (German Edition)
schäbig und charakterlos wie alle anderen – und sogar noch schlimmer als die Leute aus Potshead, die du immer verachtet hast. Das Baby, das du in dir getragen, geboren und gefüttert hast, besudelt deinen guten Ruf, nur um eine Nacht oder zwei in Stony Cottage mit Miss Langbein hier herumzuturnen, mit Fräulein Bewegt-sich-einfach-zauberhaft. Sieh sie dir an! Selbst in meinem Unterrock sieht sie schöner aus als ich in meinem Hochzeitskleid.»
Ich ging neben Mums Entrüstung durch das Dorf, fühlte mich selbst wie betäubt. Niemand lief uns über den Weg; Naseby blickte sich aber nervös zu beiden Seiten um und zitterte beim Gedanken daran, wer aus dem jeweiligen Haus herauskommen oder den Vorhang beiseiteziehen könnte, weil er unsere Schritte auf der Straße gehört hatte.
Wir erreichten unsere Haustür. «Geh rein», befahl Mum, als Naseby zögerte.
«Bitte, Mum, ich bring sie zurück. Ich hol ihren Pelz und –»
«Heb den Riegel hoch, Nase. Dafür ist es jetzt zu spät.»
«Verflucht, Mum», sagte er fast unter Tränen.
«Verfluch dich selbst, Junge. Du hast dir das alles selbst zuzuschreiben.»
Er öffnete die Tür und trat ins Haus. Wie still es drinnen war – und so warm! Ich schloss die Tür hinter uns, wie angewurzelt standen wir vier da. Das Wohnzimmer war leer, das Feuer brannte schwach; Dad musste die Jungen ins Bett geschickt haben, um draußen hinterm Haus etwas zu werkeln. Naseby zerquetschte dem Meermädchen fast die Hand. Die strahlende Schönheit des namenlosen Mädchens ließ unser Haus bäuerlich wirken; Mums und sogar Nasebys Haut sahen rot und faltig aus, versehrt vom harten Leben, von der Arbeit und dem endlosen Scheuern des Windes.
Mum zog den Mantel aus und reichte ihn mir.
«Ihr entschuldigt mich.» Sie drückte sich an Nase und dem Mädchen vorbei und ging in die Küche; wir hörten das Scharren einer Schüssel, die aus dem Regal gezogen wurde, das Klappern der Kelle in dem Topf mit Kohlsuppe, die wir zu Abend gegessen hatten. Mum wartete immer, bis wir uns satt gegessen hatten, damit sie sich hinterher in Ruhe ihrem eigenen Essen widmen konnte. «Odger?», rief sie. Klappernd landete die Schüssel auf dem Tisch, der Löffel kam klirrend daneben zum Liegen, ein Stuhl wurde zurückgezogen, und sie nahm darauf Platz. Ich bemerkte, wie reglos wir hier vorne im Wohnzimmer herumstanden, und versuchte, den Bann zu brechen, indem ich erst Mums und dann meinen eigenen Mantel aufhängte.
Dad kam zur Hintertür herein. «Was willst du, Frau!»
Mum musste irgendeine Geste gemacht haben, denn plötzlich stand er im Türrahmen, kam auf uns zu. Sein Gesichtsausdruck beim Betreten des Zimmers verriet, dass er Bescheid wusste. Er hatte von Anfang an Bescheid gewusst.
Er blickte in mein Gesicht zwischen den beiden anderen und merkte, dass ich im Bilde war. «Wo hast du sie gefunden?», rief er durch den Flur zurück.
Statt zu antworten, klirrte Mum laut mit dem Löffel in der Schüssel.
«Wo hat sie euch gefunden?», fragte er nun Nase.
«Cave Cove», sagte er.
«Hat euch jemand auf dem Weg hierher gesehen?»
Naseby schüttelte den Kopf.
Dad hätte noch mehr gesagt, wenn ich nicht da gewesen wäre. Stattdessen trat er zurück in den Flur, drehte sich noch einmal um und gab Nase ein beschwichtigendes Zeichen, sah, dass ich ihn beobachtete, und ging in die Küche. Er lehnte sich im Stuhl zurück, zog die Schultern fast bis zu den Ohren hoch und sagte etwas zu Mum.
«Nein», gab sie zurück.
Er sprach lauter. «Wir können das immer noch irgendwie hinbiegen. Nase sagt, euch hat niemand gesehen –»
«Sophie muss es erfahren», sagte Mum. «Und mir ist egal, wer sonst noch davon erfährt. Wirklich völlig egal, Odge. Es ist höchste Zeit, dass Naseby für seinen Unfug geradesteht. Und du solltest endlich zugeben, dass er ein Nichtsnutz ist.»
Ich stellte fest, dass ich das Wohnzimmer gar nicht mehr verlassen wollte, weil es von dem wundervoll wilden Geruch des Meermädchens erfüllt war. Es kam mir vor, als wäre der ganze Ozean hier hereingeschwappt, als tummelten sich darin Fische, Salzwasser, Seetang und Wale, als durchschnitten Meeresvögel die frische Luft darüber. Konnte auch ein
Mädchen
dem Zauber eines Meermädchens erliegen? Die Furcht versetzte mir einen Stich und löste mich aus meiner Starre, und ich zwang mich, durch den Flur bis zur Küchentür zu gehen, wo mich der beruhigende Anblick von Mum beim Abendessen erwartete, die ein wenig müder wirkte als sonst,
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