Seeherzen (German Edition)
den Straßen und um die Felder von Rollrock herumstreunte und zu jung war, um zu bemerken, dass ihm irgendetwas fehlte.
Ich ließ die Eingangstür offen stehen. Ich machte alle Fenster auf. Es klemmten noch dieselben Fenster wie früher, und ich wusste genau, an welcher Stelle ich Kraft ausüben musste, um sie nach oben oder unten zu schieben. Ich öffnete die Hintertür zum Garten – das Gras war dort draußen hoch gewachsen und vom Regen und Wind niedergedrückt worden. Der Luftzug, der durch die offene Tür ins Haus hereinströmte, fühlte sich an wie mein allererster Atemzug seit Dads Tod und unserer Abreise. Ich schloss die Augen. Das entfernte Meeresrauschen ließ die Stille nur noch tiefer werden.
Die kleinen Räume hallten ungewohnt ohne die Teppiche darin. Zurück im Wohnzimmer, zog ich den Überwurf vom Sessel meines Vaters. Wie klein er war, wie bescheiden, dabei hatte ich ihn doch damals für einen Thron gehalten, den ich nur besteigen konnte, indem ich mich vom Boden abstieß und mit einem großen Satz daraufsprang. Nun musste ich in die Knie gehen, um darauf Platz zu nehmen. Der erloschene Kamin leistete mir Gesellschaft, und neben mir träumte der Sessel meiner Mutter unter seiner Decke vor sich hin.
Es ist nicht so, dass sie wertvoll wären
, hörte ich mich zu Kitty sagen – über diese beiden Dinge, die einen wesentlichen Bestandteil meiner Seele bildeten. Was war bloß aus mir geworden: ein geschwätziger, geschäftiger Großstädter, der sich über seine eigene Kindheit lustig machte und obendrein andere dazu anstachelte, über die abgelegene Insel, ihre weltfremden Bewohner, meine eigene Herkunft zu lachen! Mein Dad hatte diesen Ort geliebt; meine Mum hatte die Liebe zu ihrem Mann auch auf diese Insel ausgedehnt; ich hatte die ersten zwölf Jahre meines Lebens hier verbracht, und die Pflaster- und Mauersteine der Insel hatten Spuren in mir hinterlassen, genau wie die Hügel und Täler, Molen und Strände und die Gezeiten des Meeres zu allen Seiten. Nun kehrten inmitten der Stille – die Lehnen des Armsessels dämpften sogar das Geräusch des Meeres – die Stimmen zu mir zurück, von Shys Akzent unten am Kai zu neuem Leben erweckt. Dad und Mum seufzten, mahnten und lachten, die fröhlichen hellen Rufe meiner Spielkameraden durchdrangen die Lüfte frostiger Wintermorgen und träger Sommernachmittage. Jetzt war ich froh, dass Kitty nicht mitgekommen war, denn dann hätte ich die Stimmen nicht gehört; ich hätte einfach weiter so gelebt, ohne zu wissen, wer ich wirklich war und wo ich wirklich herkam.
Ich erhob mich vom Sessel meines Vaters und ging aus dem Haus, ließ die Tür einfach hinter mir zufallen, ohne abzuschließen. Gemächlich stieg ich den Hügel hinauf, nahm alles um mich herum in mich auf, erinnerte mich an alles, ließ meine Kindheit, die ich immer in mir getragen, aber so lange verleugnet hatte, wiedererwachen.
Ich erreichte das höchstgelegene Haus, die Hexenvilla. Das Gras dort war ebenso hoch gewachsen und niedergedrückt wie bei mir zu Hause. Die Fenster waren geschlossen und die Gardinen zugezogen. Viele der Vorhänge waren gegen die Scheibe gedrückt, und dahinter zeichneten sich die eckigen Formen von Möbelstücken ab, als hätte jemand im Wahnzustand oder in blinder Panik das gesamte Mobiliar des Hauses vor den Fenstern aufgestapelt, um irgendwelche fremden Mächte am Eindringen zu hindern. Der Garten, den ich als so ordentlich angelegt und gepflegt in Erinnerung hatte, war ein einziges Dickicht; Bäume und Büsche wucherten weit über ihre Grenzen hinaus, darauf lagen Klumpen aus herabgefallenen Blüten und Zierobst, darunter spross das Unkraut.
Ein Mann kam die Straße herauf und steuerte auf mich zu. Es war Emmett Marshall, der Dad meines Schulfreundes Risby Marshall; Risby und ich hatten uns gegenseitig oft aus der Klemme geholfen, wenn die älteren Jungen Prügel austeilten.
«Na, wenn das mal nicht der kleine Dominic Mallett ist!», rief Emmett. Lachend streckte er mir die Hand entgegen. Seine Zähne waren länger, als ich sie in Erinnerung hatte, und sein Haar war vollständig weiß geworden. «Wie geht’s dir, mein Junge?»
«Mir geht’s gut, Mr. Marshall. Bin nur auf ’n kurzen Abstecher von Cordlin hier, um meinen Dad zu besuchen und mich um den Hausverkauf zu kümmern.»
«Willst du zu Misskaella?»
«Oh, nein! Ich bin nur zufällig hier vorbeigekommen. Sie hat wohl das Zeitliche gesegnet?»
Er schaute mich verdutzt an, dann lachte er.
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