Seeherzen (German Edition)
als sei ich gar nicht da, und ich sprang schnell beiseite, um ihr Platz zu machen. Durch das Aufstehen hatten ihre Kleider einen säuerlichen Körpergeruch freigegeben. Ich unterdrückte einen Ekelschrei und folgte ihr, geradewegs zum Strand hinunter und auf das Wasser zu, in dem der Mondschein badete. Was meinte sie mit
testen, wo Kittys Sanftmut aufhört
? Wollte sie sich etwa in die Wellen stürzen und erwartete, dass ich sie rettete? Warum glaubte sie, Kitty kümmere das Schicksal einer verrückten alten Frau, die noch dazu so eng mit den Robbenfrauen verbandelt war, die sie so verabscheute? Vielleicht sollte ich fliehen, über den Strand zurücklaufen – so schwer, wie Misskaella das Gehen fiel, konnte sie mich bestimmt nicht einholen. Doch was würde sie stattdessen tun? Mich mit einem Blitz erschlagen? Mir eine magische Wand in den Weg werfen? Ich blieb in gewissem Abstand seitlich hinter ihr zurück und schlug langsam den Weg Richtung Dorf ein.
Doch dann hielt ich inne, unfähig, einen weiteren Schritt zu tun, ob aus Überraschung oder einem anderen Grund. Einige der Mondschatten auf dem Meer entpuppten sich als schwimmende Wesen, und als sie das Seichtwasser erreichten, erkannte ich, dass es Robben waren. Ein paar von ihnen kamen näher geschwommen und tauchten jetzt aus den Wellen auf. Ihnen folgte eine lange Reihe aus Robben, die jenseits der Brandung Richtung Norden um den Forward Head herumgeschwommen kamen und auf die Crescent Cove zuhielten.
Die Hexe sang, im Lärm der Wellen war sie nur undeutlich zu hören; ich zwang meinen Körper, mich ihr nicht weiter zu nähern, um die Worte verstehen zu können. Ihre Füße hinterließen dunkle Abdrücke im schimmernden Sand. Die Wasserkräusel liefen ins Meer zurück und platschten den drei Robben, die die Vorhut bildeten, Rüschenkragen aus Wasser an die Brust. Sie preschten auf Misskaella zu wie Hunde auf ihr Herrchen. Sie streckte die Hand aus und bewegte lockend die Finger, als würde sie Vogelfutter verstreuen. Die Robben umringten sie; neben ihnen, über ihnen wirkte sie weder so ungeheuerlich noch so sonderbar wie zuvor. Ich versuchte, zurückzuweichen, mich fluchtbereit zu halten, denn was war, wenn sie vorhatte, die Bestien auf mich loszulassen? Doch ihr Lied, was auch immer es war, hielt mich fest; sein Sinn blieb mir verborgen, es klang gleichzeitig grauenhaft und wunderschön und anders als alles, was ich je zuvor gehört hatte. Zwei weitere Robben glitten durch die Wellen aufs Ufer zu. Sobald sie festen Boden unter den Flossen hatten, bewegten sie sich auf ihre raupenhafte Krabbelart weiter fort. Meine Haut fing überall an zu kribbeln, überzog meinen gefangenen Körper mit einem steten Strömen, doch Misskaella wankte mit nassglänzenden Füßen und Unterschenkeln unerschrocken zwischen den Bestien hindurch, der Saum ihrer Tücher schleifte durchs Wasser und versprühte das Mondlicht.
Zielstrebig wählte sie eine Robbe aus, die zwischen ihr und dem Wasser lag. Sie klemmte sich ihren Stock unter den Arm, legte die Handflächen aneinander und beugte den Oberkörper vor, als würde sie betteln, beten oder sich ehrfürchtig verneigen. Sie sang und sang, und ihr Lied war ebenso unergründlich wie zuvor, wie Seetang, der sich irgendwo verfangen hat und seine Stränge im Strom der Gezeiten nach allen Seiten ausstreckt und doch nie zu fassen bekommt, wonach er greift. Die auserwählte Robbe rollte sich auf den Rücken – ich spürte die Drehung, als wäre ich selbst die Robbe, obwohl ich feingliedrig und furchtsam hier im Sand stand. Ein unsichtbares Messer stach dem Tier unter dem Kinn ins Fleisch und schnitt eine dunkle Linie den Körper hinunter. Ich stieß einen schwachen Schrei aus, einen Schrei ohne Kraft, als sich der Körper der Robbe blutlos öffnete wie zwei riesige Lippen. Doch anstatt Zähne und Zunge zu zeigen, begann die Haut zu beben, und in ihrem gleißenden Dunkel erschien ein Mädchen und setzte sich auf. Misskaella reichte ihm eine Kralle, und das Mädchen legte seine lange weiße Hand hinein, ließ sich aus der schrumpfenden Robbenhaut aufhelfen. Sie war weiß wie ein Knochen, schmal wie ein Schössling, ihre Haare fielen schwarz aus dem Knäuel hinab, das an ihren Hinterkopf gedrückt gewesen war. Dunkel und glänzend breiteten sie sich aus wie die Wellen des Ozeans, wie die vom Meer umspülten Robben.
Ich machte ein paar Schritte vorwärts, dann zwang ich mich, stehen zu bleiben. In mir surrte Misskaellas Gesang, ich hatte
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