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Seeherzen (German Edition)

Seeherzen (German Edition)

Titel: Seeherzen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margo Lanagan
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mich im Strahlen des Robbenmädchens verirrt, in ihren Formen, ihrer schwankenden hochgewachsenen Gestalt neben der buckligen fetten Hexe. Sie trat, geführt von Misskaella, aus dem Pelz hinaus und auf den silbrigen Untergrund. Sie stand zwischen den Robben, fürchtete sich weder vor ihnen noch vor dem alten Weib, das vor ihr stand, und schien die Kälte gar nicht zu spüren. Ihr Pelz war zu einem dicken Lappen verkümmert und wand sich neben ihren wohlgeformten Füßen schrumpfend um sich selbst.
    Das Meer verstummte, so wie es das manchmal tut. Zwischen dem Quietschen und Schlittern der Robbenkörper ertönte Misskaellas tiefe, durchtriebene Stimme: «Dominic Mallett?»
    Zögernd näherte ich mich den beiden Gestalten, die aufrecht zwischen den feuchten, bäuchlings daliegenden Robben standen, die eine schattenhaft, die andere strahlend.
Kitty Flaming
, sagte ich verzweifelt zu mir selbst,
meine zukünftige Ehefrau. Kitty
. Doch die Worte waren nichts verglichen mit Misskaellas Gesang; Kitty war nichts, nur ein schwaches Fähnchen, das vom magischen Wind zerfetzt wurde. Ihr Gesicht verschwamm und verblasste in meinem Gedächtnis, während das Gesicht des Meermädchens im Mondschein immer deutlicher wurde, ein friedliches, dunkeläugiges, vollmundiges blasses Oval, umspielt von nachtschwarzem Haar, das nach warmem Meer duftete. Sie blickte mich versonnen an, furchtlos und ohne zu lächeln; sie konnte den Blick ebenso wenig von mir abwenden wie ich meinen von ihr. Niemand, weder Frau noch Mann, hatte mich jemals so ruhig und vertrauensvoll angesehen. Kitty sah mich nie auf diese Weise an; in ihren Augen hüpften immer schon die nächsten Aufgaben und Pläne, hinter ihren Lippen formten sich schon die nächsten Worte. Dieses Mädchen wartete einfach nur ab, ihr ganzes Wesen, ihre ganze Zukunft waren auf mich ausgerichtet.
    Ich fühlte mich wie mit erfrischendem Frühlingswasser übergossen. Fortgespült war der besorgte, betriebsame Mann, der ich zuvor gewesen und mit dem Kitty zufrieden gewesen war; nun fühlte ich mich wertvoll genug, um mich diesem reineren Wesen zuzuwenden, das von der Welt noch unbefleckt, unversehrt war. Ein Blick von ihr genügte, und ich wurde von Ruhe erfüllt, steuerte auf ihre Augen, ihren Mund zu wie ein Schwimmer, der verloren im offenen Meer auf das einzige Licht weit und breit zuhält. Den Rest von ihr beachtete ich kaum – die wohlgeformten Brüste, die schmalen Hüften, die schattenhafte Scham, die schlanken Beine, die zu den fast im Sand versunkenen Füßen führten, den schwarzen Wasserfall aus Haaren, der sie wie ein fransiger Umhang aus Seide umschwebte. All das registrierte ich, wollte es mir aber für später aufheben. Misskaella stand grinsend daneben, die alte Krähe, sang und lachte über mich, weidete sich an meiner Misere. Auch ihr schenkte ich keine Beachtung, ließ mich ganz in die aufmerksamen dunklen Augen hineinfallen, sehnte mich danach, meinen Mund auf diese vollen, leicht geöffneten und unergründlichen Lippen zu drücken – gebot mir aber, mich zurückzuhalten, bis wir zu zweit sein würden, unbeobachtet von der Hexe und dem Wetter.
    «Wie heißt du?», fragte ich das Robbenmädchen.
    Sie antwortete mit dem Meer, dem Schnaufen und Jaulen ihrer Gefährten.
    «Ja, wie heißt sie, Dominic Mallett?», fragte die Hexe. «Es ist deine Aufgabe, ihr einen Namen zu geben, den sie hier an Land benutzen kann. Was soll sie antworten?»
    Ich horchte in meinem Herzen nach dem richtigen Namen. Ich streckte eine Hand aus, und sie legte ihre warme Handfläche hinein; ihre warmen Finger umschlangen meine kalten. «Dominic Mallett», sagte sie, so wie Fametta, nur neugieriger; sie experimentierte mit den ersten Worten, die ihrer neuen Kehle entwichen, über ihre neue Zunge glitten.
    «Sie heißt Neme», sagte ich, weil ich noch einmal sehen wollte, wie sich ihre Zunge bei einem N bewegte, wie ihre Lippen ein M formten.
    «Neme?», krächzte Misskaella aus dem grellen Licht heraus, das das mondbeschienene Meer abstrahlte. «Nun gut, dann heißt sie also Neme.» Damit schob sie Neme zu mir hin, ich ergriff die andere Hand des Mädchens, und wir standen voneinander verzaubert im Sand, während sich die Robben wie riesige dunkle Maden um uns herumschoben.
     
    Am nächsten Morgen stand ich auf, und es fühlte sich an, als würde ich einen vollständig neuen Körper, einen vollständig neuen Mann mit den herkömmlichen Kleidern des vorherigen Mannes ankleiden. Ich gab der noch

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