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Seeherzen (German Edition)

Seeherzen (German Edition)

Titel: Seeherzen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margo Lanagan
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so die wichtigsten Dinge und Details entdecken konnte, die mir vielleicht entgingen. Gerade ließen wir die überwältigende Stadt mit ihren viel zu vielen Gesichtern, zu vielen Gardinen, Toren, großen Bäumen und Blumenkästen hinter uns und flogen an Feldern vorbei; dem konnte ich leichter folgen – den Feldern in ihrer Leere, den Hügeln in ihrer bauschigen Rundlichkeit, mit der sie dem Meer ähnelten, dessen ausschweifenden Anblick ich gewohnt war.
    Der Motor schien sich direkt unter unserem Sitz zu befinden, so wie er unsere Hinterteile durchrüttelte. «Ganz schön laute Art, sich zu bewegen», sagte ich zu Dad.
    «Kann man wohl sagen», stimmte er mir zu. «Lauter als ein Boot und ganz sicher lauter als die eigenen Beine. Dafür geht’s schnell», fügte er hinzu, «und wir müssen schnell sein, wenn wir an einem Tag hin- und zurückwollen.»
    Als wir Knocknee erreicht hatten – das zwar nicht so groß war wie Cordlin, aber an einem Markttag wie heute immer noch geschäftig und für einen Jungen aus Rollrock überwältigend genug –, schob sich mein Dad durch die Menge und stellte hier und da jemandem eine Frage. Was er die Leute fragte, verstand ich nicht, aber zur Antwort schauten alle schnell woanders hin, schüttelten die Köpfe und wandten sich ab. Ich lief hinter Dad her, und vom Laufen und den vielen neuen Eindrücken – Hunde, rote Haare und rote Gesichter, riesige Gemüsestapel, Massen von frischgeschlachtetem baumelndem Fleisch in den Marktreihen – wurde ich schließlich müde und zitterte vor Erschöpfung. Dad setzte mich vor der Mauer des Marktplatzes auf einer Bank ab, die von der sanften Herbstsonne beschienen wurde. «Warte hier auf mich, solang ich weitersuche, Daniel; sobald ich mehr weiß, hol ich dich ab.»
    Kurze Zeit später wurde jemand auf dem anderen Ende der Bank abgesetzt, jemand, der einen Rock trug und deutlich mehr Haare hatte als ich. Mittlerweile hatte ich mich ein bisschen beruhigt und taute allmählich in der Sonne auf. Nachdem wir uns ein paarmal dabei erwischt hatten, wie wir einander verstohlen ansahen, sagte ich zu ihr: «Ich weiß, was du bist.»
    Sie hörte auf, mit den Beinen zu baumeln, sah mich an und verengte die Augen – sie waren so hell wie bei meinem Dad – zu Schlitzen. «Soso, und was bin ich?»
    «Du bist ein Mädchen», sagte ich.
    Sie lachte glucksend. «Ach, ehrlich?», sagte sie. «Wie gut, dass du mir das gesagt hast.» Sie fing wieder an, mit den Beinen zu baumeln, dann sah sie sich um, betrachtete Beine, Hinterteile, Körbe, Betriebsamkeit. «Und ich dachte immer, ich wär ’ne Giraffe.»
    «Aber du bist doch eins, oder?», fragte ich. «Ein Mädchen?»
    Sie musterte mich von Kopf bis Fuß. Ihr Atem schwebte weiß in der Luft, die durchdringend nach dem nahegelegenen Räucherfleischstand roch und kein bisschen nach Meer. «Bist du behämmert, oder was?»
    «Ich hab noch nie eins getroffen», sagte ich.
    Sie schnaubte.
    «Das stimmt», beteuerte ich. «Bei uns auf Rollrock gibt’s keine.»
    Jetzt sah sie noch verwirrter aus – und noch hübscher.
    «Du bist von Rollrock Island?»
    «Ja, bin ich», bestätigte ich. «Mein Dad und ich sind heute Morgen hergekommen.»
    «Zum ersten Mal?» Auf einmal schien ich interessant zu sein, und sie fand mich anscheinend auch nicht mehr blöd, was gut war.
    «Zum allerersten Mal», sagte ich.
    «Du warst dein ganzes Leben lang auf dieser Insel?»
    Ich suchte in ihrem Gesicht nach einer Erklärung dafür, warum das so erstaunlich sein sollte. «Ja, war ich», sagte ich. «Und auf dem Meer drum herum.»
    «Ich war noch nie auf der Insel», sagte sie. «Mum und Dad wollen nicht mit mir hinfahren. Sie sagen, die Männer werden da verrückt. Ist dein Dad verrückt?»
    «Natürlich nicht.» Suchend blickte ich mich nach ihm um. Keines dieser Beinpaare gehörte zu ihm, keiner der Köpfe, deren Hutkrempen sich fusselig vor der Sonne abzeichneten.
    «Bist
du
verrückt?», fragte das Mädchen.
    «Nein!»
    Sie lachte über mich, allerdings nicht unfreundlich. Was für eine Menge Haare sie hatte! Und sie waren nicht glatt und seidig wie bei einer Mum. Wenn man das Band abziehen, die Schleife lösen und sie aus den Zöpfen befreien würde, stünden ihre Haare zu allen Seiten ab. Vielleicht würden sie auch einfach von ihrem Kopf davonlaufen – oder Feuer fangen, wenn so viele knallrote Strähnen aufeinandertrafen.
    «Du könntest alles sein», sagte sie, «mit deinen riesigen Augen.»
    Beschämt drehte ich

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