Seeherzen (German Edition)
Nachmittagslicht seegrasgrün. Ob Mum den Geruch später an mir riechen würde? Ob er sie traurig machen würde?
«Los, Kit», forderte Aran den kleinen Cawdron auf, «wir wollen dich auch mal dadrin sehen; du gibst bestimmt ’ne tolle kleine Mum ab, so hübsch wie du bist.»
«Nie und nimmer!», entgegnete Cawdron. «In dem Ding geh ich unter.»
«Jetzt mach schon; an dir sieht’s bestimmt besonders gut aus.»
Und da wir nichts Besseres zu tun hatten, versuchten wir nun alle gemeinsam, Kit zu überreden. Jakes holte einen größeren Mantel hervor und zog ihn an, drängte Kit noch einmal, es ihm gleichzutun, und nach einer Weile hatten wir den armen Kerl so zermürbt, dass er sich das glänzende dunkle Ding überhängte.
Da ging die Tür zum Schankraum auf. In Windeseile versuchten wir zu verbergen, was wir gerade taten. Irgendwie gelang es uns, die Tür zum Lagerraum zu schließen, die Pelze selbst ließen wir hinter unseren Beinen verschwinden, und als Battons und Johnnys Dad auf dem Weg zum Klo an uns vorbeikam, taten wir so, als würden wir uns ganz unschuldig die Zeit vertreiben.
«Was führt ihr Jungs denn im Schilde?», fragte er und trat einen Schritt zurück, als er all unsere Augen auf sich gerichtet sah.
Doch niemand musste sich eine Antwort abringen, denn er öffnete schon die Tür zum Hof; der Wind schlug ihm entgegen und stieß ihn beinahe um.
«Da draußen ist übles Wetter, Mr. Baker», sagte Grinny in der perfekten Mischung aus mürrischem und respektvollem Tonfall.
«Wenn ich bei dem Wetter da draußen schiffen geh, frier ich mir den Schniedel ab», befand Baker und blinzelte in den dämmrigen Hof hinaus. «Wie ich sehe, ist da draußen schon einer erfroren», fügte er lachend hinzu. «’ne ganz schöne Latte hat der Kerl, wenn ich mich nicht täusche.»
Damit verschwand er auf dem Hof und knallte die Tür hinter sich zu.
«Wenn er auch nur einen Flossenzipfel sieht, sind wir geliefert», sagte Grinny in die erleichterte Stille hinein. «Dann gibt’s ’ne Tracht Prügel, Stubenarrest und ewig kein Abendessen – und unsere Mums werden
so
enttäuscht sein.»
Wir hatten gerade noch Zeit, die Mäntel zu verstecken, als Baker auch schon zurückkam. Er schloss die Tür, schwankte ein wenig und warf uns einen Blick zu – wir standen alle wieder auf den gleichen Positionen wie vorher. «Tut nichts, was ich nicht auch tun würde», sagte er schließlich, tippte sich an die Nase und verschwand.
Und dabei hätten wir es belassen können, und alles wäre in bester Ordnung gewesen, alles wie immer.
Doch da flüsterte Jakes: «Jetzt komm schon, Kit. Du warst die perfekte Mum.»
Also zogen wir den Pelz noch einmal hervor und stülpten ihn Cawdron über. Jakes zog den anderen an, und wir lachten, als sie versuchten, den Gang einer Mum nachzuahmen, die zarten Bewegungen ihrer Hände, den sorgenvollen Gesichtsausdruck. Cawdron lieferte natürlich die beste Darbietung, so feingliedrig und braunäugig wie er war. Dafür war Jakes’ Aufführung witziger, weil er mit seinen Sommersprossen, orangeroten Haaren und Wurstfingern eigentlich mehr nach Dad aussah.
«Ich lieg schon seit Tagen im Bett, so schlecht geht’s mir, Mrs. Cawdron», klagte er gramgebeugt, rollte mit den Augen und bemühte sich um einen singenden, trillernden Tonfall, und wir konnten uns kaum noch halten und klammerten uns wimmernd vor Lachen aneinander.
Und dann stieg Kit mit ein, und Himmel, war er gut! Er war noch nicht im Stimmbruch und hatte somit auch die richtige Tonhöhe für seine Rolle. «Ich krieg nämlich noch ein Bää-bieh», sagte er, und wir waren kurz davor, uns vor Lachen auf dem Boden zu wälzen.
«Ich dachte, Sie hätten gerade erst eins gekriegt?», fragte Jakes lachend.
«Ja, hmm, hab ich. Aber es war nur ’n Mädchen, deshalb hab ich’s zum Meer runtergebracht und ertränkt.»
«Die werden doch nicht
ertränkt
, du Spinner!», rief Raditch.
Doch Jakes übertönte ihn: «Das ist wunderbar! Dann haben wir in sechzehn Jahren noch eine Robbenfrau, die wir für einen unserer Jungs aus dem Meer fischen können.»
«Das stimmt, aber ich wünschte, ich könnte noch einen Sohn bekommen – so wie meinen reizenden Christopher hier! Aber ich kriege leider nur eine Tochter nach der anderen!»
Er ging vollkommen in seiner übertriebenen Darstellung einer leidenden Mum auf, hielt sich den Handrücken vor die Stirn und wankte im Raum umher, als sein Blick plötzlich auf etwas hinter uns, über uns, fiel. Er
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