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Seeherzen (German Edition)

Seeherzen (German Edition)

Titel: Seeherzen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margo Lanagan
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habt!»
    An diesem Punkt hielt er inne. Er hob den Blick, der bis jetzt stetig auf uns Jungs gerichtet gewesen war. Bis zu diesem Zeitpunkt war mir nicht klar gewesen,
wie
böse wir gewesen waren, zu sehr hatten uns der Spaß und die Angst in Beschlag genommen. Doch als Mr. Grinnys Blick auf die nun fest verschlossene Tür des Lagerraums fiel, kam ihm offenbar das, was er darin gesehen hatte, wieder in den Sinn, und sein Gesicht nahm einen derart verwunderten Ausdruck an, dass er kaum älter aussah als Kit neben ihm. Irgendetwas an diesem Ausdruck kam mir bekannt vor – ab und zu hatte mein Dad Mum in einem ruhigen Augenblick so angesehen. Doch als ich Mr. Grinny, der sich vor Jungen, die nicht seine eigenen Söhne waren, eigentlich zusammenreißen sollte, mit glänzenden Augen und offenem Mund dastehen sah, fing meine Kopfhaut an zu kribbeln, und sein plötzliches Schweigen jagte mir einen solchen Schauder durch den ganzen Körper, dass ich befürchtete, mir gleich in die Hose zu pinkeln.
    Dann erklangen die Schritte der Männer im Flur, wir Jungs drückten uns aneinander, und Grinny wurde wieder erwachsen.
    Baker war immer noch zornesrot im Gesicht und brachte Rab Wholeman und seinen Dad, der seine Gesichtszüge mühsam unter Kontrolle hielt, zu uns herüber. Rab war ein hochgewachsener Junge, fast selbst schon ein Mann, doch als er sah, dass das Vorhängeschloss nicht am Riegel hing, wich alle Farbe aus seinem Gesicht und ließ es um Jahre altern; einen Moment lang erstarb das Licht in seinen Augen, und er geriet leicht ins Wanken, konnte sich aber noch auf den Beinen halten.
    «Wer hat es?», quetschte Wholeman hervor. Sein Kopf schwenkte wie die Laterne eines Leuchtturms herum. Als sein Blick mich streifte, stellten sich mir die Haare über den Ohren auf. «Wer hat das Schloss?»
    «Ich, Mr. Wholeman», flüsterte Aran. Er schob sich nach vorn und reckte ihm seine zitternde Zwergenhand mit dem Vorhängeschloss entgegen. Wholeman riss es mit seiner Pranke an sich. Aran wich zurück und trat wieder zwischen uns. Aus dem Augenwinkel sah ich, wie Raditch ihm mitfühlend die Hand auf den Rücken legte.
    Doch gerade schienen nicht wir die Schuldigen zu sein, denn Grinny wandte sich von uns ab, Baker ebenfalls, und Wholemans Leuchtturm-Blick schwenkte herum und traf seinen Sohn. Mit einem Mal war alle Aufmerksamkeit auf Rab gerichtet, der bei jedem Gesicht, das ihn anblickte, erbebte und ein weiteres Stück schrumpfte. «Ich hab nicht … ich kann nicht … wie ist das
passiert
?», heulte er schließlich. «Ich schließ
immer
ab, sobald ich die Kisten reingeräumt habe! Immer!» Er fing an zu schluchzen.
    Wholeman wedelte Rab mit dem Vorhängeschloss vor der Nase herum und versetzte ihm einen heftigen Schlag auf den Hinterkopf. Rab taumelte und blinzelte die Tränen weg, während er den Schmerz ertrug. «Es tut mir
leid
», brachte er schließlich heraus. «Ich hab ’nen schrecklichen Fehler gemacht.»
    «Das hast du», presste Wholeman hervor, als müsste er seine Kehle fast vollständig zusammenquetschen, um nicht in unbändiges Wutgebrüll auszubrechen. Er schleuderte Rab das Schloss gegen die Brust – der Haken stand offen und tat bestimmt fies weh. «Mach’s wieder dran!», sagte Wholeman. «Und sorg dafür, dass es
richtig
einschnappt.»
    Wir Jungs wichen zu beiden Seiten aus und ließen den armen Rab zwischen uns hindurchgehen. Er war allein mit seiner Schmach, hochrot im Gesicht, und seine Augen schwammen in Tränen. Mit zitternden Händen klappte er den Türbeschlag über die Ringöffnung und steckte den Haken hindurch. Eine Träne tropfte ihm aufs Handgelenk und schimmerte silbrig im Lichtschein des Fensters. Wir alle hörten das Einschnappen des Schlosses und spürten die Erleichterung, die mit dem Geräusch einherging – alles war wieder so, wie es sein sollte.
    Auch Wholeman stieß einen Seufzer aus, doch sobald Rab sich ihm zuwandte, straffte er sich wieder. Er hob den Zeigefinger und schwenkte ihn langsam hin und her, während er seinen Sohn aus zusammengekniffenen Augen anfunkelte. «Wenn du jemals,
jemals
 –» Baker, der direkt neben ihm stand, schäumte auf die gleiche Weise.
    Doch Mr. Grinny legte Wholeman besänftigend die Hand auf den Arm. «Ich glaube, der Junge hat’s begriffen.»
    Rab schob sich an den älteren Männern vorbei, stürzte zur Tür hinaus und knallte sie hinter sich zu.
    «Hier gibt’s noch Flaschen, die gespült werden müssen!», brüllte Wholeman ihm

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