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Seeherzen (German Edition)

Seeherzen (German Edition)

Titel: Seeherzen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margo Lanagan
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hinterher.
    «Gib dem Jungen Zeit, sich zu beruhigen, Storn», sagte Mr. Grinny.
    In diesem Moment kamen wir ihnen wieder in den Sinn, und Baker und Wholeman sahen uns voller Abscheu an.
    «Aber haben
die
Jungs es auch begriffen?», fragte Wholeman.
    «Ich bin sicher, das haben sie», sagte Grinny. In diesem Moment liebte ich ihn für seine besonnene Stimme und sein unverzerrtes Gesicht. «Sie gehen jetzt alle zu ihren Mums, tun ihnen auf irgendeine Weise etwas Gutes und lassen kein Wort von dem durchsickern, was heute passiert ist. Hab ich recht?»
    «Ja, Mr. Grinny», sagten wir kleinlaut.
    Er öffnete die Hintertür. Wir hasteten hinaus in den Wind, jeder von uns eingehüllt in seinen eigenen Teil der Schuld – so wie Rab. Wir verabschiedeten uns nicht voneinander, jeder schlug nur seinen Weg ein; einige von uns mussten dabei an dem armen rotäugigen Rab vorbei, der dort draußen an der Wand lehnte und mit verschränkten Armen und versteinertem Blick an uns vorbei ins Leere starrte. Ich dachte an Grinny und Raditch und strich Rab im Vorübergehen über den Arm. Er sah mich nicht an; doch sein Kinn kräuselte sich, als kämen ihm jeden Augenblick wieder die Tränen, also hastete ich davon, um ihm eine weitere Demütigung zu ersparen.
     
    An diesem Morgen war ich zur Schule hochgerannt und hatte bis zum Klingeln Fußball gespielt, um mich warm zu halten. Jetzt stellten wir uns im kühlen Frühlingswind auf.
    «Wo sind die Wright-Brüder?», fragte Mr. Paste stirnrunzelnd.
    «Sie sind seine Cousins, Sir!», rief jemand.
    «Oh.» Er wandte sich ab und nahm seine Position an der Tür ein.
    «Seine Cousins?», sagte ich verständnislos zu Eric Cartney neben mir, der wegen der Kälte auf der Stelle trampelte und sich die Arme warm rubbelte.
    «Cousins von Tom Dressler.»
    «Ja, und? Was ist denn mit ihm?»
    «Er hat seine Frau verloren. Sag mal, kriegst du gar nichts mit? Ganz Potshead weiß Bescheid!»
    Seine Frau verloren
. Ich stellte mir vor, wie Tom Dressler die Hügel und Strände durchkämmte und weinend nach ihr rief. «Und jetzt helfen sie ihm suchen?»
    Eric riss vor Erstaunen über meine Dummheit die Augen auf und fasste sich an den Kopf.
    «Du hast doch gesagt, er hat sie verloren», verteidigte ich mich.
    Erics glotzäugiges Gesicht kam so plötzlich auf meins zugeschossen, dass ich zurückwich. «Sie ist tot», fauchte er mir so leise wie möglich entgegen. «Hat sich an ’nem Küchenbalken erhangen!»
    «Das weiß
jeder
, Eric», sagte Raditch genervt hinter ihm.
    «Daniel aber nicht», sagte Eric. «Anscheinend ist es Daniels Aufmerksamkeit irgendwie entgangen», fügte er hochnäsig, aber sehr gedämpft hinzu, weil wir uns Mr. Paste näherten, dessen Aussprache er soeben imitiert hatte.
    «Außerdem heißt es ‹erhängt›, sagt mein Dad», erklärte Jakes Trumbell von hinten. «Nicht ‹erhangen›.»
    «Ob ‹erhängt› oder ‹erhangen› – das macht sie auch nicht weniger tot», pflaumte Eric ihn an. Doch mittlerweile standen wir direkt vor Paste, der die Hand hob und Eric aufs Ohr schlug.
    Missmutig trottete Eric zu seinem Pult, und ich steuerte mechanisch auf mein eigenes zu.
Sie hat sich erhangen. Sie hat sich erhängt
 – keins von beidem ergab Sinn. Erhängen war etwas für Diebe und Mörder; dafür brauchte man ein Schafott, einen Priester und einen Mann, der die Kapuze aufsetzt, oder etwa nicht? Wie konnte man sich
selbst
erhängen? Mir war nicht klar, wie das gehen sollte, schon rein praktisch nicht. Die Frage,
warum
jemand so etwas tun sollte, wagte ich gar nicht erst zu stellen.
    Erst letzten Sommer hatte ich auf der Kirchenmauer gesessen und Amy Dressler lächelnd am Arm ihres frischgebackenen Ehemannes aus der Kirche heraustreten sehen. Sie trug das wunderschöne Hochzeitskleid, das auch Mum getragen hatte, das alle unsere Mums getragen hatten. Und ich hatte natürlich schon tote Tiere gesehen – Millionen toter Fische, verwesende Möwen zwischen dem angeschwemmten Strandgut, Jodpers frischgeschlachtete Kühe und Schafe und ein einziges denkwürdiges Mal vierzehn gestrandete Wale am Six Mile Beach. Ich konnte mir die Braut neben dem toten Wal vorstellen, aber es erschien mir unmöglich, beides miteinander zu verbinden. Ein lebendiger Mensch, der zu einer toten Sache wird, und das aus freien Stücken? Es widersprach jedem gesunden Menschenverstand.
    Entwurzelt von allem, was ich bis dahin zu wissen geglaubt hatte, taumelte ich durch den Tag, hin- und hergestoßen von

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