Seeherzen (German Edition)
riss die Hand herunter, stolperte über den Rand des Pelzes und stieß gegen die Wand. Keine Spur mehr von Mum auf seinem Gesicht, keine Spur mehr von Spielerei; mit einem Mal war er wieder der Kleinste von uns, der die größte Angst hatte.
Hinter uns standen Bakers Dad und Mr. Grinny, die sich lautlos vom Schankraum herübergeschlichen hatten, um uns wobei auch immer zu erwischen.
Wir schrumpften zu einem Häuflein zusammen, drängten uns vor Kit und Jakes an die Wand und starrten die Männer wie hypnotisiert an. Mr. Grinnys Gesicht war aschfahl und starr vor Entsetzen, doch Bakers bebte, und flammend rote Wut loderte darin auf – der fröhliche Mr. Baker, der uns sonst immer zuzwinkerte und durchs Haar wuschelte. Ich glaubte, ihm würde jeden Moment der Kopf platzen, so wie die Wut darin anschwoll und er daraus hervorstarrte.
«Was zum Teufel tut ihr da?», fauchte er in die Grabesstille hinein. Jemand ließ einen fiepsenden Furz fahren, doch niemand kicherte auch nur darüber;
jeder
von uns war kurz davor, sich vor Angst in die Hose zu machen.
Kit Cawdron sagte keinen Ton. Er
klebte
an der Wand hinter uns, wäre am liebsten mit ihr verschmolzen.
Ich dachte, Baker würde ihn packen und verprügeln. Jeder dachte das. Auch Grinnys Dad – und beschloss, dass es nicht dazu kommen sollte. Er legte Baker begütigend die Hand auf den Arm.
«Zieht das aus, Jungs», sagte er sanftmütig wie ein Lamm.
Unsere Schar löste sich ein winziges Stück voneinander. «Lass mich mal», raunte Raditch und half Cawdron mit der Rückseite des Pelzes. Nichts war zu hören außer ihrem unbeholfenen Gefriemel, Cawdrons stockendem Atem und dem Glitschen und Rascheln der Robbenpelze.
«Kommt, Jungs», sagte Mr. Grinny und streckte die Hände aus. Ich hatte keine Ahnung, was in ihm vorging – was geht im Dad eines anderen Jungen vor? –, aber sein Gesicht wirkte jetzt nicht mehr ganz so versteinert wie zuvor. Gut, dachte ich, sie werden sie wohl nicht verdreschen. Das hier ist einfach zu schlimm, um mit einer Tracht Prügel abgegolten zu werden. «Hängt die Pelze wieder auf, Jungs», sagte er, «und zeigt ein bisschen Respekt.» Er umschloss Kits weißes Pfötchen mit einer sommersprossigen Pranke, mit der anderen hielt er Baker am Ärmel fest, der vor Wut kochte und kurz davor stand, auf etwas einzudreschen, während wir die verfluchten Dinger zurück in den Lagerraum verfrachteten und wieder aufhängten. Wir zitterten wie die Pappeln oben auf dem Aussichtshügel und mussten uns gegenseitig helfen. Die Kammer war angefüllt von unserem Atem und den Pelzen. Von draußen hörte ich Grinny zu Baker sagen: «Bring Wholeman her. Und seinen Jungen.»
Als wir fertig waren, schlossen wir kaum hörbar die Tür und drehten uns um, um unsere Bestrafung entgegenzunehmen. Mr. Grinny stand immer noch da und hielt Cawdron fest. «Wholeman?», brüllte Baker durch die Tür zum Schankraum, wo sofort Stille eintrat. «Und wo steckt Rab?» Flaschen klirrten, Gläser klopften auf die Tische, Stühle quietschten unter den Männern, die beiseiterückten.
Mr. Grinny beugte sich zu uns herunter. «Ihr rührt die Häute nie wieder an, ja?», fragte er sanft, fast traurig.
«Nein, Sir.»
«Nein, Mr. Grinny.»
«Machen wir nicht. Versprochen.»
«Auch wenn die Kammer nicht verriegelt sein sollte», sagte er. «Selbst wenn die Tür sperrangelweit offen steht, geht ihr nicht rein. Ihr rührt die Pelze eurer Mums nicht mehr an.»
«Wir rühren sie nie wieder an, Sir», beteuerten wir und schüttelten die Köpfe.
«Shan», sagte er zu seinem Jungen, «geh nach Hause zu deiner Mum. Ihr Jungs geht jetzt alle nach Hause, kümmert euch um eure Mums und guckt, ob sie irgendwas brauchen. Tragt ein paar Kohlen für sie rein. Macht ihnen einen Tee. Massiert ihnen die Füße. Oder setzt euch einfach nur zu ihnen und redet über schöne Sachen, die ihnen gefallen, den Frühling vielleicht, oder übers Fischen. Geht nach Hause und tut euren Mums was Gutes, jeder von euch Jungs. Ihr habt sie gekränkt, und jetzt müsst ihr’s wiedergutmachen. Selbst wenn sie vielleicht nichts davon wissen – und keiner von euch wird ihnen auch nur ein Sterbenswörtchen erzählen –, habt ihr was bei ihnen gutzumachen: Kit und Jakes, weil ihr euch so über sie lustig gemacht habt, und ihr anderen, weil ihr darüber gelacht habt. Und selbst wenn ihr nichts davon getan habt – es reicht, dass ihr einfach in die Kammer reinmarschiert seid und sie angefasst
Weitere Kostenlose Bücher