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Seeherzen (German Edition)

Seeherzen (German Edition)

Titel: Seeherzen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margo Lanagan
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verstörenden Gedanken. Ich hatte nicht gewusst, dass Menschen einfach beschließen konnten, ihr Leben selbst zu beenden. Eine neue Gefahr breitete sich vor mir aus – wer wohl sonst auf diese sinnlose Idee kam, wenn die lächelnde Amy Dressler es getan hatte? Welche andere Mum, die unter ihrer Seegrasdecke weinte oder still vor sich hin litt, würde noch auf den Gedanken kommen, uns zu verlassen? Warum sollte meine eigene Mum es nicht auch tun? Schließlich hatten wir in der Küche ebenfalls Deckenbalken – wenn das alles war, was man dazu brauchte.
    Als die Schule an diesem Tag aus war, waren die Boote bereits im Hafen eingelaufen. Mum war nicht zu Hause, als ich heimkehrte, doch Dad war im Garten und grub die Beete für seine Frühlingsbepflanzung um. «Schule aus, Sohn zu Haus!», rief er, als ich zur Hintertür hinaustrat.
    «Mrs. Dressler», sagte ich nur.
    Das halbherzige Lächeln floh aus seinem Gesicht. «Das ist eine sehr traurige Sache.» Gemächlich grub er weiter.
    Ich ging langsam durch den Garten auf ihn zu. «Wie macht man das, sich selbst erhängen?»
    Er musterte mich von oben bis unten. «Das brauchst du nicht zu wissen», befand er schließlich. «Solltest du es jemals wissen müssen, wirst du’s schon rausfinden. Deine Mum ist natürlich sehr traurig deswegen. Sie sind alle traurig. Haben sich unten versammelt, um gemeinsam zu trauern.» Wütend fuhr der Spaten in die festgepappte Erde; der ausgehobene Dreck brach äußerst zufriedenstellend auseinander. «Und wenn sie zurückkommt, reden wir nicht mehr drüber, hast du gehört? Kein Wort über die Dresslers, weder die toten noch die lebendigen.»
    Ich nickte und sah ihm bei der Arbeit zu. Nach einer Weile begann ich, ihm zu helfen, klaubte Steine aus der umgegrabenen Erde und stapelte sie zu einer Seite auf. Es schien eine gute Beschäftigung zu sein, um meinen Geist zur Ruhe zu bringen, mich von einem Stein auf den nächsten zu konzentrieren und dabei über Samen, Keime und wachsende Dinge nachzudenken.
    Wir waren noch dort draußen zugange, als Mum heimkehrte; wir sahen sie am Küchenfenster stehen, doch sie winkte uns nicht und kam auch nicht in den Garten, um uns zu begrüßen. Als wir ins Haus gingen, um Tee zu trinken, war sie noch ruhiger, als sie es sowieso immer war, und die Haut um ihre Augen war aufgedunsen, aber nicht gerötet; sie hatte heute geweint, aber es war schon einige Stunden her. Mir schien, als berührte Dad sie ein wenig liebevoller als sonst, wenn er in ihrer Nähe war, doch außer mir wäre niemandem etwas Ungewöhnliches an diesem Abend aufgefallen – abgesehen vielleicht von den durchdringenden, wachsamen Blicken, die ihnen ihr Sohn zuwarf, verstört von den Ereignissen, die sich heute außerhalb ihres Hauses abgespielt hatten, und zutiefst besorgt, was der morgige Tag bringen würde.
     
    Als wir noch am Rockzipfel unserer Mums hingen, nahmen sie uns immer mit, wenn sie sich bei der einen oder anderen zu Hause trafen. Zunächst wurden Höflichkeiten ausgetauscht, es gab Tee, man musste gerade sitzen und wurde von allen beäugt. Die Mums unterhielten sich über ihre Männer und deren Launen; dann sprachen sie über uns, darüber, wie wir uns entwickelten, aßen und wuchsen.
    Schließlich stand eine von ihnen seufzend vom Tisch auf und setzte sich auf einen Sessel, ein Sofa, einen Kaminhocker oder einfach auf den Boden. Schlagartig veränderten sich die Bewegungen der Mums, wurden langsamer, verschwommener, und ihre glockenhellen Stimmen glitten in tiefere Töne hinab, ab und zu erklang ein kehliges Lachen. Wir tollten währenddessen im Haus umher, und jedes Mal, wenn wir ins Zimmer zurückkamen, hatten sich mehr Mums um die sitzende versammelt, sich an sie gelehnt oder zu sich herangezogen, um sie zu stützen. Klammern wurden entfernt, Haare gelöst und Kämme herbeigeholt, und sie begannen mit dem Kämmen. Es gibt nichts Schöneres als das sorgenfreie Gesicht einer Mum, während ihr das Haar gekämmt wird. Als wir jünger waren, kamen wir immer vom Spielen hereingelaufen und legten uns zwischen sie, wurden getätschelt und verhätschelt, und die Mums kämmten uns die Haare, verglichen sie miteinander, wie unterschiedlich gewellt und rot sie waren. Manchmal erlaubten sie uns auch, ihnen die Haare zu kämmen, doch unsere Arme waren einfach nicht lang genug, um es so gut zu machen, wie sie es untereinander konnten – mit langen, langsamen seidigen Strichen fuhren sie von der Kopfhaut zu den Spitzen hinunter,

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