Seejungfrauen kuesst man nicht
Rad schließlich mit dem Kopf auf dem Küchentisch einschlief, und ich musste ihn wachrütteln und ihn zum Kaffeetrinken auffordern, damit er uns nach Hause fahren konnte. Seitdem hatte ich Birdie nur auf neutralem Territorium getroffen - in einem Park, im Café oder bei Francés. Sie hatte mich bei diesem ersten Mal ihrer Mutter vorgestellt, aber ich spürte, dass es unpassend gewesen wäre, sie öfter zu besuchen. Valerie Cromer arbeitete in einer Art fensterlosem Besenschrank an einem Schreibtisch und schwang sich auf ihrem Drehstuhl herum, als wir klopften. Ihre Haare waren braun mit grauen Strähnen und zu einem unordentlichen Pferdeschwanz zusammengebunden, die Haut in ihrem Gesicht fing an zu welken, obwohl sie nicht älter als vierzig gewesen sein kann.
»Gut, gut«, sagte sie, als Birdie ihr erklärte, wer ich war. Sie sah mich über ein Paar Brillengläser mit breitem rotem Rand hinweg an und nickte langsam. »Ihr seht wirklich aus wie Schwestern.« Dann wandte sie sich wieder ihrem Papierstapel zu, und das war alles.
»Sie ist beschäftigt«, hatte Birdie erklärt. »Korrigiert Examensarbeiten. Achtundvierzig Pence pro Skript, kannst du dir das vorstellen?« Sie sah überall Ungerechtigkeiten.
Ich wusste sofort, dass wir uns anfreunden würden, dass wir uns nicht nur treffen und wieder auseinander gehen und unser Leben weiterleben würden. Wenn man jemanden kennen lernt, bekommt man innerhalb von Minuten ein Gespür dafür, ob sich daraus etwas entwickeln kann oder nicht, und bei Birdie war das Gefühl, dass wir uns bereits kannten, nicht nur aufs Aussehen beschränkt. Sie sah genauso zu mir auf wie ich früher zu Frances; als jemand, der sich als Tor zu einer interessanteren Existenz erweisen könnte. Es war seltsam und angenehm, diese Art von unverdienter Bewunderung zur Abwechslung einmal selbst zu erfahren. Sie kann nicht nur davon beeindruckt gewesen sein, dass ich älter war als sie. Obwohl sie zwei Jahre jünger war, hatte sie das Selbstvertrauen eines älteren Mädchens. Sozial benachteiligt zu sein hatte ihr doch auch ein paar Vorteile gebracht. Sie war sehr gern bei den Radleys, weil es dort war wie bei ihr zu Hause - locker, unordentlich und ungezwungen -, aber mit mehr Gesellschaft. Und sie mochten sie ebenfalls, weil ihre Herkunft romantisch war und weil sie felsenfeste Überzeugungen hatte, über die sie sich lustig machen konnten. Sie war offensichtlich in einem Haushalt aufgewachsen, in dem oft über Politik diskutiert wurde. Sie beherrschte das gesamte Kauderwelsch: Alles war entweder »politisch korrekt« oder »politisch unkorrekt«; es gab Sozis, aber keine Konsis, Grüne, aber keine Blauen, Streikbrecher, Kommunisten, Faschisten - Worte, die mir nichts sagten, die sie jedoch mit absoluter Sicherheit aussprach. Meine Mutter hatte immer steif und fest behauptet, es zeuge von schlechten Manieren, über Politik zu reden - es sei denn, man war Politiker, und selbst dann mochte sie es nicht besonders. Meinungen waren nichts, das man verkündete, mit anderen teilte oder modifizierte, sondern etwas, das man versteckte wie ein teures Schmuckstück, das in einer Schachtel aufbewahrt und nie getragen wird, damit es nicht kaputtgeht.
Innerhalb von zwei Wochen hatte Birdie Frances zu Lexis großer Bestürzung zum Vegetarismus bekehrt. Das bedeutete, dass Frances nicht mehr gezwungen werden konnte, irgendwelche Mahlzeiten für die Familie vorzubereiten, die Fleisch enthielten. Mr. Radley liebte es, sich mit Birdie zu streiten: Niemand anders würdigte seine Ansichten mit einem Streitgespräch. Sie waren sich über praktisch alles uneinig.
»Wir sind Fleischfresser, schau nur«, sagte er und fletschte die Zähne. Oder: »Gleichberechtigung? Könnt ihr haben, wenn es nach mir geht. Wenn ihr euer Leben im Nadelstreifenanzug in einem Büro verbringen wollt, bis ihr alt und erschöpft seid, und das für Freiheit haltet, dann nur zu!« Oder: »Glaubst du wirklich, es macht im Alltag auch nur den geringsten Unterschied , welche Partei an der Macht ist? Ich habe in meinem ganzen Leben noch nicht gewählt.«
»Wann kommt deine Schwester wieder?«, fragte er mich am Tag nach Birdies erstem Besuch. »Ich habe nicht oft die Gelegenheit, mich mit einer echten Feministin zu streiten.«
»Sie hat gesagt, an einen so hoffnungslosen alten Eiferer würde sie keinen einzigen Atemzug mehr vergeuden«, improvisierte Frances. »Außerdem sind wir auch Feministinnen«, fügte sie indigniert hinzu. Mr. Radley
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