Seejungfrauen kuesst man nicht
wusstest, hast du nie den Wunsch gehabt, mich ausfindig zu machen und mich zu konfrontieren?«, fragte ich sie eines Nachmittags.
»Das durfte ich nicht«, sagte sie. »Mum hat mir erzählt, dass du nichts von uns wusstest. Aber als ich jünger war, habe ich dich wirklich gehasst.«
»Oh.« Mir gefiel die Vorstellung nicht, gehasst zu werden, selbst in absentia und mit zeitlichem Abstand von mehreren Jahren.
»Aus irgendeinem Grund habe ich mir vorgestellt, du wärst reich und lebtest in einem protzigen Haus, mit einem Pony und allen Schikanen, während Mum und ich in einem Apartment ohne Zentralheizung hockten und arm waren.«
»Wir haben auch keine Zentralheizung«, sagte ich, plötzlich stolz auf eine Tatsache, die mich jahrelang geärgert hatte.
»Aber ich bin trotzdem mal zu eurem Haus gegangen ungefähr vor drei Jahren. Ich wusste, dass Mum deine Adresse irgendwo hatte; ich habe den Zug und den Bus genommen und mich total verlaufen. Ich bin meilenweit gelaufen, aber schließlich habe ich es gefunden. Ich habe das Haus vom Ende der Straße aus ungefähr zehn Minuten lang bespitzelt. Dann bin ich ein bisschen mutiger geworden und bis zum Haus gegangen. Ich habe durchs Fenster deinen Dad gesehen (»deinen Dad«, fiel mir auf, nicht »Dad«), und dann kamst du aus der Haustür, und ich bin abgehauen. In eurer Straße kann man sich nirgends verstecken. Ich war ziemlich erleichtert darüber, dass du nicht reich warst oder so. Ich erinnere mich sogar daran, dass du einen wirklich schlimmen Rock getragen hast. (An dieser Stelle schnaubte Mr. Radley vor Lachen.) Dadurch habe ich mich viel besser gefühlt.«
»Ich habe ihn noch irgendwo«, sagte ich und schwor mir noch im selben Moment, ihn so bald es ging wegzuschmeißen.
Bei einem dieser Gespräche kamen seltsame Übereinstimmungen ans Licht. Wie ich war Birdie in der Schule schikaniert worden; sie hatte sich nie die Haare schneiden lassen; sie konnte nicht schwimmen, und sie spielte ein Musikinstrument - Geige. Als wir unsere Aufzeichnungen verglichen, kam heraus, dass unsere jeweiligen Orchester im Sommer zuvor am selben Musikfestival teilgenommen hatten. Wir waren vielleicht nur eine Bogenlänge davon entfernt gewesen, uns dort bereits zu entdecken.
Aufgrund dieses gemeinsamen musikalischen Interesses schlug Birdie vor, zusammen Straßenmusik zu machen. »Hast du das schon mal gemacht?«, fragte sie.
Ich verneinte. Irgendwie fand ich, dass das Cello nicht den Klang hat, der sich für U-Bahn-Stationen oder Unterführungen eignete. Eine Konzerthalle oder der Garten eines Colleges in Oxford, ja.
»Lass uns das tun. Man kann damit gut Kohle machen«, beharrte sie. »Ich könnte noch eine weitere Geigerin und eine Bratschenspielerin zusammentrommeln, kein Problem, und wir könnten ein bisschen Kammermusik machen.«
»Kammermusik?«, sagte Frances ein wenig niedergeschlagen, als wir ihr von dem Plan erzählten. »Ich nehme an, das heißt ohne Sänger.« Sie hielt sich für eine Art Klubsängerin mit tiefer, rauer Stimme, und ihr hätte nichts besser gefallen, als peinlich berührten Pendlern »Hey Big Spender« entgegenzuschmettern.
»Wo wollt ihr das machen?«, fragte Rad. »Ihr müsst aufpassen, dass ihr nicht das Gebiet eines anderen verletzt.«
»Da ist dieser blinde Akkordeonspieler, der den Abschnitt beim Parkplatz des Einkaufszentrums hat«, stimmte Frances zu. »Der sieht aus, als könnte er unangenehm werden.« Ich hatte plötzlich das Bild eines Kleinkriegs zwischen rivalisierenden Musikergangs vor mir.
»Lass dich von denen nicht davon abbringen«, sagte Birdie. »Das wird lustig. Wir laden euch von unserem Verdienst zu einer Pizza ein«, versprach sie ihnen.
Bruder und Schwester sahen sich an. »Wir essen vorsichtshalber schon vorher«, sagte Frances.
Letztendlich konnte Frances nicht widerstehen mitzukommen. Wir hatten uns eine Stelle in einem Unterführungskomplex in der Stadtmitte ausgesucht, wo die Tunnel auf einer Kreuzung unter freiem Himmel zusammenliefen, deren Hauptmerkmal ein achteckiges Stück vertrockneten Rasens war. Die ausgewählte Stelle hatte den Vorteil, eine interessante Akustik zu bieten, ohne zu bedrückend unterirdisch zu sein. Trotzdem roch es dort wie in einem Pissoir. Ziemlich befangen pflanzten wir uns - Instrumente, Notenständer, ein Stuhl für mich - zwischen zwei Graffiti-Schmierereien: FREIHEIT FÜR NELSON MANDELA und weiter weg: TRACIE IST EINE FETTE SCHLAMPE.
Birdie hatte ein paar Arrangements für Cello und
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