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Seejungfrauen kuesst man nicht

Seejungfrauen kuesst man nicht

Titel: Seejungfrauen kuesst man nicht Kostenlos Bücher Online Lesen
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ihm her.
    »Noch ein zufriedener Kunde«, sagte Birdie und fing an zu kichern. Fünf Minuten später, als wir zusammenpackten und Rad kam, kicherten wir immer noch darüber.
    »O nein«, sagte er, als ich die Haken meines Cellokastens zuschnipste. »Ich komme doch nicht zu spät, oder?«
    Birdie wäre bereit gewesen, alles wieder auszupacken, nur um ihm einen Gefallen zu tun, aber Frances hatte sich schon seit geraumer Zeit gelangweilt, und ich hatte die Nase voll von der Unterführung. »Zwölf Pfund«, sagte Birdie und rasselte mit der Plastiktüte, in der sich die Ein- ‚ nahmen des Nachmittags befanden, vor seinem Gesicht.
    »Nicht schlecht«, gab er zu. »Aber in der Bäckerei kriegt man wenigstens Brot umsonst - und so viel Mehl, wie man einatmen kann.«
    »Ah, aber man hat nicht die Freude, von verrückten Pennern bespuckt zu werden«, sagte Birdie und erzählte, mit vielen Unterbrechungen und Ausschmückungen von Frances‘ Seite, von dem Zwischenfall.
    Wir hatten geplant, zurück zur Balmoral Road zu gehen, unsere Instrumente dort abzuladen, auf Nicky zu warten und uns eine Pizza zu bestellen - vielleicht auch zwei, je nachdem, wie weit unsere Mittel reichten. Ich hatte das Mittagessen ausfallen lassen, und mir wurde bei dem Gedanken an Essen vor Freude schon leicht schwindlig. Als wir am Bahnhof ankamen, erzählte Rad gerade von dem Durchbruch in seinem Essay über Kant, während ich versuchte, mich an die vier Beläge auf einer Quattro Stagioni zu erinnern, und nur mit einem Ohr zuhörte, als Frances mich plötzlich in die Rippen stieß und sagte: »Aha, da ist der Rotzer.« An der Mauer beim Taxistand saß auf einem gräulichen Schlafsack unser Kritiker mit seiner schmutzigen Jeans und seiner Wollmütze. Es war damals immer noch ein seltener Anblick, einen jungen Menschen offen betteln zu sehen - besonders in den Vororten -, und ich war schockiert über die unterwürfige Art, wie er den Kopf gesenkt und die Hand ausgestreckt hielt, während er die ganze Zeit »Eine kleine Spende bitte« vor sich hin murmelte. Aber Rache ist ein primitives Bedürfnis, und in dem Moment, als ich ihn sah, spürte ich, wie sich mein Mund mit Speichel füllte.
    »Das ist der Kerl, der uns vor die Füße gespuckt hat«, sagte Frances zu Rad. »Geh hin und knall ihm eine.«
    »Macht es dir was aus, wenn ich‘s nicht tue?«, fragte Rad.
    Birdie, die bisher nicht zu erkennen gegeben hatte, dass sie ihn wieder erkannte, und stattdessen in ihre eigenen Gedanken versunken zu sein schien, kam plötzlich zu sich und sagte: »Darf ich? Ihr habt doch nichts dagegen, oder?«, fügte sie hinzu, während wir drei zurückblieben und uns etwas unbehaglich fragten, welche Gestalt diese Konfrontation annehmen würde. Bevor einer von uns sie davon abhalten konnte, hatte sie die Straße überquert und ihm die Plastiktüte mit unseren gesamten Nachmittagseinnahmen vor die Füße geworfen.
    Es wäre schön, erzählen zu können, dass der Empfänger dieser grandiosen, wohltätigen Geste eine gewisse Dankbarkeit oder Beschämung zeigte, doch er starrte Birdie nur mit leerem Blick an und zog die Tüte etwas näher zu sich heran.
    »Glaubt ihr, ich habe das Richtige getan?«, fragte Birdie, als sie unsere bestürzten Mienen sah.
    »Ach, großartig«, sagte Frances bitter. »Das war unser Abendessen.«
    »Ich hatte sowieso keinen Hunger«, sagte Rad, als er sah, dass Birdie bei diesem Tadel rot wurde.
    Artischocken. Das war der vierte Belag, fiel mir ein.
    Wegen des regen Besucherverkehrs bei den Radleys - Birdie, Lawrence, Clarissa, Nicky - und auf Grund meiner Erhebung zum Künstlermodell und Rads ungünstiger Arbeitszeiten hatten Rad und ich selten Gelegenheit, zusammen zu sein. Seine Schicht in der Bäckerei fing um drei Uhr morgens an, deshalb kam es nicht in Frage, lang aufzubleiben. Er wollte auch nicht den Tag mit Schlafen vergeuden und beklagte sich, dass ich so viel Zeit damit verbrachte, auf dem Boden des Ateliers Perlen aufzuziehen.
    »Dad sieht dich mehr als ich«, beklagte er sich an einem Nachmittag, als Mr. Radley eine unserer Sitzungen verlängert hatte, weil es so gut lief. »Ich glaube, er macht das mit Absicht.« Ich lachte leise. Ich wusste, wieso er so ungeduldig war.

35
    An dem Tag, als Auntie Mim schließlich ins Krankenhaus musste, fuhren Rad und ich noch einmal nach Half Moon Street - allein. Mr. Radley hatte unsere Sitzung abgesagt, um sie persönlich hinzubringen und dafür zu sorgen, dass alles glatt ging. Er hatte

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