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Seejungfrauen kuesst man nicht

Seejungfrauen kuesst man nicht

Titel: Seejungfrauen kuesst man nicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: authors_sort
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und dann doch verschont geblieben waren. Der Boden hob und senkte sich wie eine Berg-und-Tal-Bahn, die Türen bestanden nur aus dicken Plastiklappen, staubige Rohre kletterten über die Wände wie Rebengewächse, und das gesamte Gebäude wirkte so baufällig und vernachlässigt, dass die Aussicht auf Genesung dort sehr abwegig erschien.
    Fairfax 2 war eine geriatrische Frauenabteilung mit sechs Betten. Rad nickte der Schwester zu und zuckte mit dem Blumenstrauß, um anzudeuten, dass wir Besucher waren. »Da ist sie«, sagte er und näherte sich einem Bett, in dem eine winzige, geschrumpfte alte Frau saß und mit offenem Mund schlief. Auf dem Nachttisch lagen ein Früchtekorb und eine offene Packung Kekse.
    »Ich glaube nicht, dass sie es ist«, sagte ich.
    »Nicht?«
    Wir betrachteten die Insassen der anderen Betten. In Krankenhausnachthemden, ungeschminkt, weiß, das einst gefärbte Haar jetzt schlapp und glatt und mit papierartiger Haut, die von den Wangenknochen bis zum Kiefer herunterhing, sahen sie alle gleich aus. Jede oder keine von ihnen hätte Auntie Mim sein können. Entmutigt gingen wir zu der Krankenschwester zurück.
    »Wir suchen Mrs. Smith«, sagte Rad.
    Die Krankenschwester brachte uns zu einem kleineren Nebenzimmer, in dem nur drei Betten standen. Unsere Erleichterung, Auntie Mim endlich zu erkennen, wurde durch die Bestürzung über die Umgebung und ihren Zustand etwas gemindert. Selbst die Mindestanforderungen an Sauberkeit und Hygiene schienen aufgegeben worden zu sein: Auf dem Boden lagen Staubknäuel, Fusseln und getrocknete Tropfen von Gott weiß was. Die Fenster waren verschmiert, und die Vorhänge waren in einem jämmerlichen Zustand. Auf Auntie Mims Stuhl lag ein Haufen benutzter Taschentücher, und auf dem Wagen am Fuße ihres Bettes war eine schmutzige Bettpfanne zurückgelassen worden. Die Patientin selbst sah äußerst schlecht aus. Aus ihrer Nase ragte ein Schlauch, der an ihrer Oberlippe festgeklebt war, und an ihrer Hand, die vom Handgelenk bis zu den Fingerknöcheln blaue Flecken hatte, hing ein Tropf. Ein weiterer Schlauch führte zu einem Plastikbeutel, der halb voll mit einer klaren, rötlichen Flüssigkeit war. Mein Magen drehte sich um, und ich vergrub das Gesicht in den glänzenden, parfümierten Seiten von Country Living. Streng geschnittene Hecken, gelbe Tapeten, Toiles de Jouy, ich blätterte fieberhaft weiter, Gieves & Hawkes, William Morris, Sissinghurst, Quiltdecken, schon besser.
    »Sie schläft«, sagte Rad. »Wir sollten noch ein bisschen warten, ob sie aufwacht. Bist du gut im Arrangieren von Blumen?«, fragte er und überreichte mir die Nelken. Auf dem Nachttisch stand eine schmale Vase mit einem welkenden Sträußchen aus Glockenblumen, Gänseblümchen und anderen Blumen, die in den Vorgärten der ans Krankenhaus angrenzenden Häuser zu finden waren: Ein Geschenk von Mr. Radley. Ich nahm sie heraus und stopfte unsere eigene Gabe in das trübe Wasser. Uns war offensichtlich ein Ladenhüter verkauft worden, denn die meisten Blumen hatten geknickte Stiele und ließen die Köpfe hängen, wodurch die wenigen anderen hoch standen wie Zaunpfähle.
    »Sehr hübsch«, sagte Rad.
    Wir lungerten etwa eine halbe Stunde lang am Bett herum, bevor wir aufgaben. Rad war ebenso erleichtert wie ich, dass sie nicht aufgewacht war, das spürte ich genau. Die einzigen Geräusche im Zimmer waren leises Schnarchen und das Kratzen eines Füllers, während die Schwester sich mit ihrer Schreibarbeit quälte. Und irgendwo in der Ferne das Brummen eines Bohnergeräts.
    »Glaubst du, sie gehen manchmal herum und schauen nach, wer noch lebt?«, fragte ich.
    Die Frau im Bett gegenüber, die wie alle anderen Patientinnen offensichtlich vor sich hin dämmerte, fing an zu stöhnen, als hätte sie große Schmerzen. Die Krankenschwester blickte kurz auf und schrieb weiter. Zum Abschied stellte Rad ihr die benutzte Bettpfanne auf den Schreibtisch und wurde dafür mit einem kalten Blick und einem bissigen »Danke« belohnt.
    »Wir kommen ein andermal wieder«, sagte Rad nicht sehr begeistert zu mir, als wir endlich durch die automatischen Türen traten und frische Luft atmeten.
    »O ja«, sagte ich zustimmend.
    »Wie habt ihr euch denn verstanden?«, fragte ich Birdie an diesem Abend.
    »Gut. Wir haben uns sofort erkannt. Ich hätte ihn auch erkannt, wenn du mir nichts von dem Hut gesagt hättest.«
    »Worüber habt ihr gesprochen?«
    »Ach, er hat mich gefragt, was meine Hauptfächer sind und was ich

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