Seejungfrauen kuesst man nicht
später studieren will. Über die Vergangenheit haben wir überhaupt nicht gesprochen. Er hat nicht mal richtig zugegeben, dass er mein Dad ist: Es war ein bisschen, wie einen lange verloren geglaubten Paten zu treffen. Irgendwann sagte er, er würde sich wirklich freuen, mich endlich kennen gelernt zu haben, und er wäre froh, dass ich mich so gut entwickelt habe. Aber ich merkte, dass es gleich emotional würde, deshalb habe ich ihn abgelenkt. Er hat gefragt, wie es Mum ginge, und ich sagte nur: ›Gut‹, und er sagte: ›Schön, schön‹, und damit war das Thema erledigt.«
»Und worüber habt ihr noch gesprochen?«
»Hauptsächlich über Bücher. Er wollte wissen, was ich lese, und ich sagte Virginia Woolf, und er verzog das Gesicht, und wir hatten einen kleinen Disput darüber, ob sie ein Genie war, und dann sagte er, ich sollte Gibbon lesen. Wer immer das ist.«
»Das ist seine Antwort auf alles«, sagte ich.
»Ich komme nur nicht dahinter, wie er und meine Mum je zusammen gekommen sind. Sie sind so verschieden. Ich meine, er ist so süß und altmodisch.« Ich wollte gerade zustimmen - sogar ein paar eigene Anekdoten einwerfen als sie hinzufügte: »Wie du.«
»Glaubst du, dass ihr euch wieder sehen werdet?«, fragte ich, als würden wir uns über eine heiße Verabredung vom Abend zuvor unterhalten. Ich wollte nicht über meine Erleichterung nachdenken, als sie sagte: »Wir haben nichts verabredet. Ich frage mich immer noch, wie ich es Mum beibringen soll und ob überhaupt. Sie wird es früher oder später sowieso herausfinden; mir rutscht es bestimmt irgendwann raus.«
»Wird es ihr was ausmachen?«
»Ich weiß nicht. Es wird ihr nicht gefallen, dass ich sie hintergangen habe.«
»Das Gefühl kenne ich«, sagte ich.
Im Gegenzug erzählte ich ihr von unserem Nachmittag im Krankenhaus. Sie wurde ziemlich blass. »Ich will nicht alt werden«, sagte sie erschaudernd. »Ich will es einfach nicht.«
37
Wir sollten die letzten Familienmitglieder gewesen sein, die sie sahen, obwohl sie uns natürlich nicht wahrgenommen hatte.
Das Krankenhaus rief am nächsten Morgen an, um mitzuteilen,dass sie in der Nacht gestorben war. Mr. Radley schien die Nachricht am meisten zu treffen: Den Rest des Tages saß er im Sessel, starrte aus dem Wohnzimmerfenster und kaute auf seinen Lippen, in seine eigenen Gedanken versunken. Als ich ihm mittags ein Sandwich brachte, sah er mich an wie eine völlig Fremde und sagte: »Danke, Birdie, stell es auf den Tisch«, wo es unberührt stehen blieb, bis ich es am Abend wegräumte. Das überraschte mich. Ich hatte ihn nie für einen Mann gehalten, der, wenn es um Menschen - richtige Menschen - ging, zu tieferen Gefühlen fähig war. Wegen Fremder, die schon lange tot waren, konnte er sich in Sentimentalitäten hineinsteigern zum Beispiel am Soldatendenkmal in Vimy -, aber er neigte dazu, auf der Straße über Bettler hinwegzusteigen.
Währenddessen befand sich Lexi im organisatorischen Overdrive: Krankenhaus, Standesamt, Leichenbestatter, Anwalt, Krematorium, alle kamen in den Genuss ihrer eigenartigen Mischung aus Tyrannei und Charme.
Die Beerdigung sollte schon in wenigen Tagen stattfinden. Es bestand keine Veranlassung, sie zu verschieben: Es gab keine Freunde oder Verwandte, die von weither anreisen mussten, und das Krematorium war sehr entgegenkommend. Anscheinend gab es für den Tod bestimmte Jahreszeiten, und im August ging das Geschäft schlecht.
»Tja, die Leute sind alle im Urlaub«, lautete die Interpretation meiner Mutter dieser statistischen Besonderheit.
Meine Granny zeigte großes Interesse an den Details von Auntie Mims Tod. »Ich bin die Nächste«, sagte sie, »Gott sei Dank.« Schon so lange ich sie kannte, hatte sie selbstzufrieden ihr unmittelbar bevorstehendes Ableben vorausgesagt. Sie war erst achtundsiebzig, aber die Blindheit hatte ihre Aktivitäten grausam beschränkt, und sie war vom Leben so gelangweilt wie eine Neunzigjährige. »Hat sie irgendwas hinterlassen?«
Ich sagte, das glaubte ich nicht. Erbschaften waren eine weitere von Grannys langjährigen Obsessionen. Sie benutzte die Notwendigkeit, für meine Mutter ein Erbe zusammenzukratzen, als Entschuldigung für ihren Geiz, der immer schlimmer und exzentrischer wurde. In der letzten Zeit hatte sie angefangen, die dünnen Plastiktüten, in die der Fleischer das Fleisch wickelte, aufzuheben und auszuwaschen. Sie hatte in der Küche eine Schnur gespannt, an der sie sie trocknete, und dort hingen
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