Seejungfrauen kuesst man nicht
verlieren, aber irgendwie hatte ich mir nie vorgestellt, dass es auf Growths Decke passieren würde. Ich nehme an, es war Angst - zu viel von mir preiszugeben und in Notfällen nichts mehr in Reserve zu haben.
»Tja, willst du den ganzen Nachmittag damit verbringen, aus einem mit Brettern vernagelten Fenster zu sehen, oder kommst du hierher?«, fragte Rad schließlich, und ich drehte mich schuldgewusst um, wie jemand, dem ein Ladendetektiv auf die Schulter klopft. Mein Herz pochte heftig - zu einem solchen Rhythmus hätte man keinen Takt schlagen können; er war völlig unregelmäßig. Vielleicht bekomme ich einen Herzanfall, dachte ich, als ich mich neben ihn legte, dann muss ich »es« nicht machen. Ein paar Sekunden später küssten wir uns, und einen Augenblick lang war es wie damals im Sommerhaus - ein Gefühl der Entdeckung und Erleichterung und ich entspannte mich und dachte, es ist in Ordnung, es wird nichts passieren. Mein Hinterkopf lag auf einem kleinen Stein unter der Decke, deshalb griff ich mit einer Hand nach hinten, um ihn zu entfernen. Rad muss mein plötzliches Hin- und Herrutschen als Zeichen der Ermutigung interpretiert haben, denn er fing an, zuerst meine Jeans und dann seine aufzuknöpfen.
»Was tust du da?«, sagte ich und riss mich los.
Er wich zurück, als hätte ich ihm kaltes Wasser ins Gesicht geschüttet. »Was glaubst du denn?«, sagte er und sah verwirrt aus. »Es ist doch in Ordnung, oder?«
»Ich finde nicht, dass wir sollten«, sagte ich, unfähig, ihm in die Augen zu sehen.
»Ich ... Ich kenne dich nicht gut genug.«
»Du kennst mich seit sechs Jahren.« Zu diesem Zeitpunkt hatten wir uns aufgesetzt und saßen im Schneidersitz im rechten Winkel zueinander, wie zwei Seiten einer Triangel.
»Nein. Ich meine richtig. Wie das hier. Wir haben kaum über alles geredet.«
»Worüber willst du denn reden?«
»Nichts Spezielles. Ich will nur ... Du hast das schon mal gemacht, oder?«
»Abigail. Ich bin seit zwei Jahren an der Universität. Ich bin kein Mönch.«
»Tja, ich habe noch nicht, also ist es für mich eine größere Sache.«
»Machst du dir Sorgen, dass du schwanger werden könntest?«
»Nein«, sagte ich ein wenig schrill. An dieser Stelle knöpfte ich meine Hose wieder zu. »Ich meine, ja, das würde mir auch Sorgen machen, aber das ist es nicht.«
»Es muss an mir liegen«, sagte er. »Du magst mich nicht mehr.«
»Das stimmt nicht«, sagte ich bestimmt. »Ich muss mir deiner nur sicher sein. Ich könnte ›es‹ nur mit jemandem tun, den ich liebe und der mich liebt.«
»Oh, ich verstehe«, sagte Rad in enttäuschtem Ton. »Ich soll dir sagen, dass ich dich liebe, ist es das?« Ich spürte, wie ich unter seinem Blick zusammenschrumpfte.
»Nur wenn es stimmt.«
»Das kann ich nicht«, sagte er, nachdem er einen Moment nachgedacht hatte. »Nein. Das wäre ein bisschen so, als würde man für Sex bezahlen.«
Wenn ich mich durch diesen Wortwechsel nicht sowieso schon so degradiert gefühlt hätte, so herabgesetzt, hätte ich nach Luft geschnappt. Stattdessen sagte ich: »Du musst mich hassen, wenn du so etwas sagst.« Wir waren inzwischen aufgestanden, steckten unsere Hemden wieder in die Hosen und versuchten, das zu wahren, was von unserer tödlich verwundeten Würde noch übrig war.
»Liebe. Hass. Alles dazwischen reicht dir nicht aus.«
»Ich verstehe nicht, wovon du redest«, sagte ich. Ich konnte jetzt jede Sekunde in Tränen ausbrechen, und dagegen würde nichts helfen, als mich in den See zu werfen oder zu emigrieren.
»Du kennst mich«, sagte Rad. »Trotz allem, was du sagst, weißt du, wie ich bin. Ich weiß nichts von ›Liebe‹, und ich werde nichts sagen, was nicht wahr ist, selbst wenn das dafür nötig wäre, um dich rumzukriegen.«
»Ich habe einfach Angst, dass du mit mir vögelst und mich dann fallen lässt.«
»Wieso sollte ich das tun?«
»Weil du es kannst.«
»Du genauso.«
»O nein. An mir wird es nicht liegen, wenn wir uns trennen. Das wirst du sein. Du bist derjenige, der sich seiner Gefühle nicht sicher ist.«
»Ich bin mir sicher, dass ich dich lieber habe als alle, die ich kenne, und dass ich mich nicht heimlich nach jemand anderem umsehe, und dass ich absichtlich nichts tun würde, um dir wehzutun. Aber das reicht dir nicht aus, stimmt‘s?«
Ich öffnete den Mund, um zu kontern, schloss ihn dann aber wieder. Ich war plötzlich von Kummer und Müdigkeit überwältigt. Ich sank auf die Armlehne der kaputten Couch. »Ich habe
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