Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Seejungfrauen kuesst man nicht

Seejungfrauen kuesst man nicht

Titel: Seejungfrauen kuesst man nicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: authors_sort
Vom Netzwerk:
an.

38
    Das Porträt von Birdie und mir ist fast fertig. Der Hintergrund sieht gut aus; unsere Gesichter sind noch leer. Ab und zu schleichen wir uns nach oben und inspizieren es nur um zu überprüfen, ob Mr. Radley wirklich daran arbeitet. Manchmal kommt mir die verrückte Idee, dass er uns gar nicht malt, sondern nur so tut und uns jeden Tag zu seinem Vergnügen auf dem Dachboden gefangen hält. Ich weiß zwar nicht, wieso er das tun sollte, aber es würde mich auch nicht überraschen.
    Mr. Radley steht zaudernd vor der Staffelei. Er hat immer Probleme, mit den Figuren anzufangen, sagt er. Eine Art Malblockade. Birdie fragt, wieso er dann keine Stillleben malt. Oder Landschaften. Er sagt, wenn er ihre Meinung hören will, lässt er es sie wissen. Bis auf Clarissa, die wieder mal am Schnorren ist, sind wir die Einzigen im Haus. Diesmal hat sie es auf Lexis Golfschläger abgesehen. Sie hat einen neuen Freund und kann es kaum erwarten, ihm das Spiel beizubringen. Lexi ist früh zum Friseur gegangen und immer noch nicht zurück. Mr. Radley sieht ständig auf die Uhr. Nicky, Frances und Rad sind mit einem von Nickys Freunden vom King‘s College windsurfen gegangen. Als Nichtschwimmerin und Angsthase ist das ohnehin kein Vergnügen für mich. Am Abend wollen wir alle zusammen essen gehen - das kriege ich hin. Ich verstehe meine Beziehung zu Rad immer noch nicht besser. In gewisser Weise scheint er mich zu behandeln, als wäre ich seine Freundin, aber seit jenem Tag in Half Moon Street achtet er darauf, mich nicht zu berühren, wenn wir allein sind. Jetzt möchte ich es; jetzt tut er es nicht. Ich bin mir nicht sicher, was läuft. Er wird es mir nicht sagen, und ich werde nicht fragen.
    Von unten sind ein unglaubliches Gepolter und ein paar gewählte Ausdrücke von Clarissa zu hören. Ich kann mir den Grund denken: Beim Herausholen der Golftasche aus dem Flurschrank ist eine Lawine aus Mopp, Besen, Eimern, Bügelbrett, Staubsauger und Kabeln heruntergegangen. Das passiert jedes Mal. Mr. Radley wagt sich nach unten, um der Sache nachzugehen. Birdie und ich entspannen und strecken uns. Das Telefon klingelt und wird abgenommen. »Oh«, sagt er. »Oh, in Ordnung ...« Er klingt enttäuscht. »Was ist mit dem Essen? Soll ich dir was aufheben? Okay, gut. Wo bist du überhaupt? ... Ach wirklich?« Seine Stimme wird hart. »Kann ich sie mal sprechen? ... Nein, das dachte ich mir schon, denn Clarissa ist rein zufällig gerade hier.« Und der Hörer wird aufgeknallt.
    Birdie und ich sehen uns nervös an. »Worum ging es denn?«, flüstert sie.
    Ich schüttele den Kopf. Ich habe nur Angst, dass Mr. Radley jede Minute wütend zurück nach oben kommt und es an uns auslässt. Aber das tut er nicht. Wir hören, wie die Haustür klickt und Clarissas Auto startet. Nach etwa fünf Minuten schleichen wir uns nach unten. Im Wohnzimmer sind die Vorhänge noch zugezogen, obwohl Spätnachmittag ist, und Mr. Radley sitzt dort im Dunkeln. Ich weiß nicht, was ich tun soll. Wenn wir uns wortlos zurückziehen, weiß er, dass wir mitgehört haben. Wenn wir ganz harmlos tun und fragen, wo er bleibt, knurrt er uns vielleicht an.
    »Komm, wir gehen«, sagt Birdie. Das nimmt mir die Entscheidung ab, und wir gehen jeder zu sich nach Hause.
    Gegen sechs gehe ich zurück. Ich will das Essen nicht verpassen. Die anderen werden inzwischen wahrscheinlich zurück sein und sich fragen, wo ich bin. Aber als ich ankomme, ist das Haus still. Die Wohnzimmervorhänge sind immer noch zugezogen, aber Mr. Radley ist nicht da. Ich beschließe, ein Bad zu nehmen, bevor die anderen kommen und das ganze heiße Wasser für sich beanspruchen. Obwohl ich »offiziell« wieder zu Mutter gezogen bin, übernachte ich immer noch oft in Frances‘ Zimmer und habe den Großteil meiner Lieblingsklamotten hier. Mutter und ich sind wieder vollkommen versöhnt, aber es fällt mir nach wie vor schwer, lange mit meiner Granny zusammen zu sein. Sie hat sich nicht entschuldigt oder zugegeben, dass sie an der Krise eine Mitschuld hat.
    Während ich im Bad bin, höre ich, dass jemand gekommen ist. Schwindelig, vom überheißen Wasser verschwollen und in ein extra großes Handtuch gehüllt, komme ich aus dem Bad und stoße mit Lexi zusammen, die zwei riesige Koffer über den Treppenabsatz zerrt. Sie sieht leicht ramponiert aus und ist nicht besonders erfreut, mich zu sehen.
    »Hallo«, sage ich. »Fährst du in Urlaub?«
    »In gewisser Weise. Fass mal mit an, ja?« Es scheint ihr nicht

Weitere Kostenlose Bücher