Seejungfrauen kuesst man nicht
ich, schnappe mir mein Kleid und quäle mich mit schamrotem Gesicht hinein. Los, mach schon, sag es ihm, dränge ich Mr. Radley wortlos. Ich kann ihm doch nicht sagen, dass seine Mutter gerade das Haus verlassen hat. Doch Mr. Radley, vor ein paar Minuten noch so schwach und verletzlich, sagt nichts. Und in der Sekunde, die es ungefähr dauert, bis Rads Gesichtsausdruck sich von Verwirrung in Ärger verwandelt, wird mir klar, dass er nicht die Absicht hat, mir zu Hilfe zu eilen; dass er will, dass Rad denkt, da sei etwas gelaufen, und dass ihm egal ist, wenn ich deshalb untergehe.
Rad interpretiert das Schweigen auf die schlimmstmögliche Art. »Raus hier«, sagt er, packt mich plötzlich am Handgelenk und zerrt mich zur Tür. Ich fange an zu schreien. »Hör auf hör auf ich hab nichts getan es ist nicht was du denkst, frag ihn frag ihn.«
»Ich darf dich nicht anfassen, aber du sitzt da und lässt dich von ihm befummeln.«
»Hab ich nicht!«
»Er würde dir sagen, dass er dich liebt. Er würde alles sagen.«
»Es war nicht meine Schuld.«
»Keine Sorge. Ihn hasse ich auch.« Er zerrt mich die Treppe hinunter, vorbei an Nicky und Frances, die fassungslos sind. Growth, den der Lärm geweckt hat und der annimmt, dass Rad angegriffen wird, stürzt sich bellend und schnappend auf mich. Er verbeißt sich in meinen Kleidersaum und schwingt mit wirbelnden Beinen hin und her. Die Rückseiten meiner Waden werden von seinen Krallen zerkratzt.
Mr. Radley ruft in halbherzigem Ton: »Ach, beruhige dich doch, Rad«, was keine große Hilfe ist. Nicky und Frances haben sich immer noch nicht gerührt: Sie haben Rad noch nie in Rage gesehen. Ich auch nicht. Ich bin so schockiert und gedemütigt und habe solche Angst vor weiteren Angriffen von Growth, dass es eine Sekunde später fast eine Erleichterung ist, mich allein draußen vor der Tür wieder zu finden. Nachdem er den Hund mit einem reißenden Geräusch von mir weggezogen hat, sind Rads letzte Worte an mich: »Verpiss dich und komm nie wieder hierher«, bevor er mir die Tür vor der Nase zuknallt.
Ich habe nichts dabei, kein Portemonnaie, keine Schuhe, nichts, aber ich werde nicht an die Tür klopfen und darum bitten. Ich gehe den ganzen Weg auf heißen, splittbedeckten Bürgersteigen zu Fuß zurück. Andere Fußgänger machen einen weiten Bogen um mich: Ich muss aussehen wie aus dem Irrenhaus entsprungen. Mein Kleid ist zerrissen, ich bin barfuß, meine Beine sehen aus, als wären sie mit Dornenzweigen geschlagen worden, und mein Gesicht ist tränenüberströmt. Ich bete, dass niemand zu Hause ist, aber Mutter ist mit einem Seifenspray draußen im Vorgarten, auf Blattlauspatrouille.
»Abigail, was ist los? Wo sind deine Schuhe?«, sagt sie, wodurch sie verrät, wo ihre Prioritäten liegen. Ich habe meine Tränen gerade unter Kontrolle gebracht, aber die Besorgnis in ihrer Stimme lässt mich wieder losheulen. Ich kann ihr nicht sagen, was passiert ist. Es wird ihre seit langem gehegten Vorurteile gegen die Radleys bestätigen: dass sie unzuverlässig sind, wahrscheinlich verrückt, aber ganz bestimmt nicht anständig. Sie wird bissige Bemerkungen darüber machen, dass Lexi ihre Familie im Stich gelassen hat. Schließlich haben sie und mein Vater sich wegen eines moralischen Problems getrennt, nicht weil sie ihre Chancen, glücklich zu sein, erhöhen wollten. Selbst in dieser Extremsituation habe ich das Bedürfnis, die Radleys zu verteidigen - dem Bild, das ich von ihnen habe, loyal zu bleiben.
Mutter lässt Blattläuse Blattläuse sein und bringt mich ins Haus. »Was ist passiert?«
»R-r-rad mag mich nicht mehr«, sage ich zwischen Mitleid erregenden Schluchzern. Genau dieselben Worte muss ich bei meiner alten Freundin und Feindin Sandra benutzt haben, als ich neun war.
»Warum?«
»Ich weiß nicht. Er will mich nie wieder sehen.« Wir sitzen auf der Treppe, und sie legt den Arm um mich. Einen Augenblick fühle ich mich getröstet, aber dann drängt sich mir die Realität wieder auf.
»Ach Liebling, es tut mir so Leid.« Sie würde mir zu gern sagen, dass ich ohne ihn besser dran bin, dass sie seine löchrigen Pullis, seine langen Haare und seine hochgestochenen Worte nie gemocht hat, aber sie hält sich zurück. Und außerdem macht ihr etwas anderes Sorgen. Sie wird leicht rosa und beißt sich auf die Lippe, bevor sie sehr schnell sagt: »Abigail, ich weiß, du wirst es nicht getan haben, aber hast du mit ihm geschlafen?« Ich schüttele den Kopf, und sie bricht
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