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Seejungfrauen kuesst man nicht

Seejungfrauen kuesst man nicht

Titel: Seejungfrauen kuesst man nicht Kostenlos Bücher Online Lesen
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Mal auf, dass er humpelte. Der Himmel war inzwischen bewölkt. Es war nur eine Frage der Zeit, bis es regnen würde. Wir schafften es bis zum King William Temple , wo obszöne Graffiti ins Mauerwerk eingeritzt worden waren und es nach Zigaretten stank wie in einem Bushäuschen, als der erste Schauer kam. Tanya ist eine frigide Kuh , lautete ein Spruch. Rad schnitt wegen des Gestanks und der Einkerbungen an der Wand eine Grimasse. »Ich hasse dieses Land«, sagte er voller Ekel. So war er schon den ganzen Tag gewesen - in der einen Minute hatte er gescherzt und in der nächsten war er in sich gekehrt und missmutig. Einen Großteil unseres Rundgang durch die Gärten hatten wir schweigend zurückgelegt. Ich stand nahe an der Tür und blickte durch den Wasservorhang hinaus in die dampfenden Gärten. Ich erinnerte mich plötzlich an das letzte Mal, als wir gemeinsam vor dem Regen Schutz gesucht hatten, in dem Cottage in Half Moon Street, und wagte nicht, ihn anzusehen, falls er auch daran gedacht hatte. »Komm schon, es ist doch nur Regen«, sagte ich und trat hinaus in den Monsun. Ich wollte nicht herumhängen wie jemand, der darauf wartete, geküsst zu werden.
    »Das war eine gute Idee von dir«, sagte er ein wenig später, als wir im Café saßen, das Wasser von unseren Haarspitzen tröpfelte und an unseren Mänteln herunterlief. Schon in den ersten Sekunden, nachdem wir vom Tempel losgerannt waren, waren wir so durchnässt, dass es sinnlos gewesen war, sich weiter zu beeilen. »Wir hätten einen Regenschirm mitnehmen sollen«, sagte Rad und beobachtete, wie ich meinen Schal in den Pflanzentopf neben mir auswrang.
    »Ich habe einen brandneuen im Kofferraum«, sagte ich, als wäre das jetzt noch von Interesse. »Ich wollte ihn mir für schlechtes Wetter aufheben.«
    Er stellte seinen Kaffee unberührt ab. »Ich wollte dir eigentlich sagen, dass du dich nicht verändert hast«, sagte er, »aber mir ist gerade aufgefallen, dass du nicht mehr rot wirst. Oder?«
    Ich schüttelte den Kopf. »Nicht mehr oft. Ich muss meine ganze Verlegenheit schon früh losgeworden sein.«
    Das war von all unseren Gesprächen, seit ich ihn angelnd auf der Insel gefunden hatte, seine erste Andeutung, dass etwas wie eine gemeinsame Vergangenheit überhaupt existierte.
    »Du scheinst mehr Selbstbewusstsein zu haben.«
    »Das ist komisch«, sagte ich und rührte braune Zuckerkristalle in meinen Kaffee. »Weil du weniger zu haben scheinst. Aber du hattest ja sowieso viel zu viel.« Ich lächelte, um ihn wissen zu lassen, dass ich Witze machte, was ich auch tat, fast.
    »Ich glaube, wenn man jung ist, ist man eine extreme Version von sich selbst, und wenn man älter wird, bewegt sich die Persönlichkeit hin zur Norm. Und dann, wenn man wirklich alt wird, schlägt es wieder ins Extrem um.«
    »Ist das eine Theorie, die du über die Jahre hinweg entwickelt hast?«
    »Nein, das ist mir gerad eingefallen«, gab er zu.
    »Ich erinnere mich,dass du sehr streng mit mir und Frances warst. Oberflächlich war das Wort, das oft benutzt wurde.«
    »Wirklich? In welchem Zusammenhang?«
    »Ach, du weißt schon, hohe Absätze, Nagellack, Schmuck - all diese Mädchensachen.«
    »Wirklich? Inzwischen mag ich hochhackige Schuhe ganz gern an Frauen. Obwohl sie offensichtlich nicht dazu da sind, um darin zu laufen, oder? Nur, um sie anzusehen.«
    Ich zog die Augenbrauen hoch. »Du hast dich aber verändert ...«
    »Ab und zu bin ich durchaus für ein paar Trivialitäten zu haben. Zum Beispiel deine Ohrringe. Dass du dir die Mühe gemacht hast, einen kleinen goldenen Mond in das eine Ohr zu stecken und einen goldenen Stern in das andere - das ist nett.«
    »Andererseits«, sagte ich, »kannst du immer noch genauso herrlich herablassend sein wie früher.«
    »Entschuldigung«, sagte er und zuckte mit den Schultern. »Das macht die jahrelange Übung.«
    Auf dem Rückweg bot Rad an, auf dem Hausboot für mich ein Abendessen zu kochen. Ich freute mich natürlich, dass er unseren gemeinsamen Tag noch ausdehnen wollte, aber vor meinem geistigen Auge erschien ungebeten dieses Regal mit den Dosensardinen und dem Milchreis. Ich konnte sie fast schmecken, und mein Gesichtsausdruck muss entsprechend gewesen sein, denn Rad sagte hastig: »Nein, natürlich, du hast wahrscheinlich andere Pläne«, und seine Stirn runzelte sich.
    »Hab ich nicht«, unterbrach ich ihn. »Ich muss zwar irgendwann die Katze füttern, aber nicht in dieser Minute. Soll ich unterwegs irgendwo anhalten, um

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