Seejungfrauen kuesst man nicht
miteinander zu verbringen. Die Arbeit ihrer Mutter im Marktforschungsbüro brachte viele Überstunden mit sich, und sie musste oft für die Freiwilligenteams, die neue Produkte testeten und darüber diskutierten, die Gastgeberin spielen. In unserem Haus versammelten sich mittwochs Frauen, um Robert Browning zu diskutieren; bei den Radleys ging es eher um Brownies, aber ihre Zusammenkünfte klangen irgendwie lebendiger. Ihr Vater arbeitete nachts woran genau war nicht herauszufinden; Frances wich mir aus, wenn ich nach Details fragte. In der Woche ernährten sie und Rad sich von Schulkost und abends von Spiegeleiersandwiches und einem anderen Grundnahrungsmittel, dem »Greasy Dog« - einem Würstchen und einer Speckscheibe, in eine Brotscheibe gerollt und in Butter gebraten. Deshalb war Frances ein bisschen mollig, aber trotzdem extrem fit. Sie war zweifelsohne die beste Läuferin in der Klasse und konnte einen Rundball bis in die Gärten jenseits des Schulgeländes schlagen. Anders als ich war sie eine sichere Schwimmerin, und während ich mich am flachen Ende herumdrückte und mit den anderen Zurückgebliebenen Wasserball spielte, übte sie im Olympiabecken das Kraulen.
»Du bist eine geniale Schwimmerin«, sagte ich neidisch, als wir uns aus unseren weißen Gummikappen schälten, mit denen wir aussahen wie gekochte Eier, die auf dem Wasser auf und nieder wippten.
»Ich bin nicht so gut wie Rad. Er hat einmal in Cornwall ein Mädchen vor dem Ertrinken gerettet, als ihr Kanu gekentert ist. Er musste sie an den Strand ziehen und von Mund zu Mund beatmen - was doppelt erstaunlich war, denn er hasst Mädchen.«
Wenn die Korbballmannschaften gewählt wurden, wurde sie immer als Erste aufgerufen. Wenn sie der Kapitän war, nahm sie aus Loyalität zuerst mich, obwohl mein Platz von Natur aus in der Rangfolge weiter unten war. Ich revanchierte mich für diese Gefälligkeit, indem ich sie immer, wenn sie nicht dazu gekommen war, die Hausaufgaben zu machen, meine abschreiben ließ. Akademische Disziplin ging über ihren Horizont: Sie lernte nur für Fächer, in denen ein persönliches Element vorherrschte. Aus diesem Grunde war sie ziemlich gut in Englisch, wo sie ihre Begabung für Autobiografisches und Ausschmückendes mühelos einbringen konnte.
Meine Eltern waren hocherfreut, dass ich entgegen ihrer Befürchtungen eine Freundin gefunden hatte und im Stande schien, sie zu behalten; damit bestand endlich eine gewisse Aussicht, dass ich in der Schule in normalem Maße glücklich sein würde. Sie drängten mich, Frances zum Tee einzuladen, um sie kennen zu lernen. Ich zögerte. So bemüht ich auch war, ein weiteres Freundschaftsband zwischen uns zu knüpfen, hatte ich doch Bedenken, sie mit nach Hause zu bringen. Ob ich befürchtete, meine Eltern und ich würden als die Spießer entlarvt werden, die wir zweifellos waren, oder ob es die Angst war, dass Francés‘ ziemlich freimütige Art, mit Erwachsenen umzugehen, bei meiner Mutter, die keinen Spaß verstand, wenn es um Manieren ging, Anstoß erregen würde - ich weiß es nicht. Ich prüfte meine Gefühle nicht zu genau, wenn sie etwas über mich offenbarten, das ich nicht wissen wollte. Außerdem war eine Einladung in die Sackgasse, was mich betraf, nur ein Mittel zum dringlichsten aller Zwecke: Ein Gegenbesuch im Hause der Radleys, wo ich endlich die Personen treffen würde, von deren Gewohnheiten und Heldentaten ich bereits gehört hatte, und wo mir ganz sicher etwas Interessantes widerfahren würde.
9
Am Ende dieses ersten Winterhalbjahres inszenierte die Oberstufe die Operette Der Mikado , in der die Hauptrollen von Schülerinnen der 12. und 13. Klasse und Mitgliedern des Lehrerkollegiums übernommen wurden und ein paar kleinere Rollen für die jüngeren Schülerinnen übrig blieben. Schülerinnen der siebten Klasse wurden selten berücksichtigt, aber Frances, die einen klaren Sopran und das schwarzhaarige, blasshäutige Aussehen hatte, das auf orientalisch getrimmt werden konnte, ohne die Mittel der Perückenabteilung übermäßig zu strapazieren, wurde folgerichtig in den Chor gezwungen. Als eine der wenigen Cellistinnen an der Schule bewarb ich mich erfolgreich fürs Orchester und fand mich spielend - oder wenigstens, bis ich mir die verzwickteren Stellen der Partitur eingeprägt hatte, pantomimisch agierend - neben viel älteren Mädchen wieder, Mädchen, die Strumpfhosen, Lidstrich und hochhackige Schuhe trugen und wunderbar wenig Angst vor den Lehrern
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