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Seejungfrauen kuesst man nicht

Seejungfrauen kuesst man nicht

Titel: Seejungfrauen kuesst man nicht Kostenlos Bücher Online Lesen
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vor mich hin und hoffte, vor Langeweile einzudösen. Nach einer Weile fingen die Tapetenmuster an, sich aufzulösen und sich zu neuen Formen zusammenzusetzen. Wie konnte mir bis jetzt das lächelnde Gesicht Jesu entgangen sein, das vom Bücherschrank auf mich herabblickte? Oder dieser merkwürdige, knurrende Hund?
    Um die Mittagszeit brachte Mutter mir auf einem Tablett etwas Hühnersuppe und Toast. Sie setzte sich neben mein Bett auf den Boden und aß ihre Portion, und dann, nachdem sie abgewaschen hatte, las sie mir das erste Kapitel von Jane Eyre vor und wir spielten Rommee. Mutter hatte immer viel mehr Verständnis für meine Krankheiten, wenn sie zufällig auf ihren freien Tag fielen. Gegen Abend war meine Temperatur ungefähr um ein Grad gestiegen und mir tat allmählich alles weh. Mein Kopf fühlte sich an, als wäre er mit Sand gefüllt; in der einen Minute war ich heiß und trocken, so als würde ich innerlich kochen, in der nächsten kalt und schweißnass. Während sich das die ganze Nacht hindurch wiederholte, wurde die Wärmflasche abwechselnd aus dem Bett geworfen und wieder zurückgeholt. Als der Morgen kam, war ich so schwach, so elend, so von der Grippe niedergewalzt, dass ich mich damit abgefunden hatte, nicht nur die Aufführung zu verpassen, sondern auch Weihnachten. Ich war zu krank, um mir etwas daraus zu machen.
    Während meine Künstlerkolleginnen mit gelblichem Make-up und schwarzem Lidstrich geschminkt wurden, wurde ich mit lauwarmem Wasser gewaschen; während sie sich dem Obersten Scharfrichter beugten, fantasierte ich, am Fußende meines Bettes wäre ein Seepferdchen. Der dritte Tag brachte eine leichte Besserung: Jetzt hatte ich die Energie, Trübsal zu blasen, zu quengeln und in Morgenrock und Hausschuhen durchs Haus zu schlurfen und mir selbst überaus Leid zu tun.
    Mutter versorgte mich weiterhin mit leicht verdaulichen Speisen und Getränken, mit heißen Wärmflaschen oder kalten Waschlappen. Sie kam oft und setzte sich zu mir, wenn ich wach war: Wir galoppierten richtiggehend durch Jane Eyre.
    An einem Nachmittag, der Tag der letzten Vorstellung und der letzte Schultag vor Weihnachten, saß ich im Bett und versuchte mich aufzumuntern, indem ich Papierketten bastelte, mit denen ich das Wohnzimmer schmücken wollte. Mir war aufgegangen, dass ich Frances oder sonst jemanden aus der Schule erst im neuen Jahr wieder sehen würde - erst 1978! - und dass ich die Gelegenheit verpasst hatte, irgendwelche Karten zu verschicken oder zu bekommen. Während ich mit dem letzten Kettenglied beschäftigt war und versuchte, die raschelnden Spiralen auf meinem Bett zu entwirren, ohne das Papier zu zerknittern, rief Mutter die Treppe hinauf: »Du hast Besuch.« Die Tür öffnete sich und herein kam Frances höchstpersönlich.
    »Hallo«, sagte sie, erfreut über die gelungene Überraschung. »Ich dachte, ich schaue auf dem Heimweg mal schnell vorbei - nicht dass es auf dem Weg liegen würde und sehe, wie es dir geht. Dieses Zimmer ist ja ordentlich. Wo bewahrst du all deinen Kram auf?«
    »Welchen Kram?« Ich hatte einen Kleiderschrank, einen Schreibtisch, einen Bücherschrank und meine Etagenbetten. Auf den Rat meiner Mutter hin lag ich im unteren Bett, falls ich mich in einem Anfall von Delirium herauswerfen sollte. Ich ließ die Papierketten zu Boden gleiten, damit sie sich setzen konnte.
    »Ach, du weißt schon, deinen Krimskrams.« Sie knallte ihre Schultasche auf meine Füße und holte aus dem Durcheinander darin ein kleines Päckchen hervor, in rotes Seidenpapier gewickelt, das mit einem Streifen Elastoplast befestigt war. »Frohe Weihnachten«, sagte sie und überreichte es mir.
    »Danke«, sagte ich erfreut und bemühte mich, die Verpackung nicht zu genau zu untersuchen, damit ich nicht erraten konnte, was darin war. »Es tut mir Leid, dass ich dir nichts gekauft habe, aber ich bin nicht draußen gewesen.« Ich legte das Päckchen vorsichtig neben mich.
    »Na, willst du es denn nicht aufmachen?«, wollte Frances enttäuscht wissen.
    »Ich kann es vor Weihnachten nicht aufmachen«, sagte ich, als stünde hinter diesem Verbot die volle Kraft des Gesetzes.
    »Na gut. Es ist sowieso nur eine Kleinigkeit.«
    »Das ist wirklich nett von dir.«
    »Nein, es war ganz billig. Es hat nur zehn Pence gekostet.«
    »Verrat mir nicht, was es ist.«
    »Das werde ich nicht. Es waren zwei für zwanzig Pence, deshalb habe ich auch eine für Mum gekauft.«
    »Nein, gib mir keine Tipps. Ich lege es unter den Baum.«

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