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Seejungfrauen kuesst man nicht

Seejungfrauen kuesst man nicht

Titel: Seejungfrauen kuesst man nicht Kostenlos Bücher Online Lesen
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bekam weiterhin Hähnchen, Karotten und Soße angeboten, was sie nach kurzer Überlegung wie aus einer Laune heraus höflich ablehnte.
    »Etwas Füllung für dich, Tantchen?«, fragte Lexi.
    »Ahm, ach weißt du, ich glaube nicht, danke.«
    Nach ein paar Minuten begann ich sie um ihre Zurückhaltung zu beneiden: Die Portionen waren riesig. Mr. Radley hatte mir ein ganzes Bein gegeben - Hüfte, Oberschenkel, Wade, Fußgelenk und alles - und ich hatte keine Ahnung, wie ich es bewältigen sollte. Zu Hause bekam ich immer nur das weiße Fleisch. Ich weiß nicht, wo meine Mutter unsere Hähnchen kaufte, aber sie mussten ohne Knochen gezüchtet worden sein. Gerade als der letzte dampfende Teller auf Rads leerem Platz abgestellt wurde, hörte man das Geräusch von lauten Schritten, die zwei Treppen herunterkamen, und der Nachzügler betrat mit einem Buch unter dem Arm den Raum. Wortlos glitt er auf seinen Stuhl und stützte das offene Buch gegen die Rosenkohlschüssel. Albert Camus, Die Pest stand auf dem Buchrücken.
    »Komm, Herr Jesu, sei unser Gast, und segne, was du uns bescheret hast«, sagte Mr. Radley plötzlich mit dröhnender Stimme, was uns zusammenzucken ließ. Erst als alle anderen missbilligende Töne von sich gegeben oder gesagt hatten, er sollte nicht dumm sein, wurde mir klar, dass er Witze machte. Das fand ich ziemlich schockierend, da Mutter bei uns zu Hause ernsthaft das Tischgebet sprach, normalerweise sogar ziemlich ausführlich, wobei sie die Hungernden in anderen Ländern beschwor, um mich zu erpressen, meinen Teller leer zu essen. Er blinzelte mir zu, was mich erröten ließ, und immer, wenn ich danach seinen Blick auffing, tat er es wieder und genoss meine Verlegenheit.
    »Rad, ich dachte, wir hätten uns geeinigt, dass du beim Frühstück lesen kannst, aber nicht beim Abendessen«, sagte seine Mutter vernünftig.
    »Hmmph«, grunzte er, ohne von der Seite aufzusehen.
    »Wir essen ja nicht so oft zusammen«, fuhr sie fort.
    »Oh, Preiselbeeren«, sagte Auntie Mim und nahm die Sauciere hoch. »Wunderbar pikanter Geschmack.«
    »Eben«, sagte Rad.
    »Nein, nicht für mich, danke, mein Lieber.«
    »Wieso sollte ich mich an eine Vereinbarung halten, die nicht einmal fest ist?«
    Alle außer mir machten mit ihrem Abendessen große Fortschritte. Frances hatte ihren Teller schon fast leer, während ich immer noch mit Knochen und Sehnen kämpfte. Jedes Mal, wenn ich versuchte, mit Messer und Gabel in das Hähnchenbein zu stechen, drehte es sich auf dem Teller und kickte Rosenkohl und Karotten auf den Tisch. Ich verbrachte genauso viel Zeit damit, das Gemüse aufzufangen und wieder auf den Teller zu befördern, wie mit essen. Die Hitze im Raum war gewaltig: das Kohlenfeuer, der Dampf von den Tellern und Growth, der hechelnd auf meinen Füßen lag. Ich fühlte, wie sein kleiner Golfball gegen meinen Knöchel drückte, und wagte nicht, mich zu rühren. An den Fenstern lief Kondenswasser herunter. Die anderen, außer Auntie Mim, waren schon bei der zweiten Portion, bevor ich überhaupt das Muster auf meinem Teller sah. Mein Weinglas schien ein Loch bekommen zu haben - jedes Mal, wenn ich es an die Lippen setzte, tropfte Wasser am Stiel hinunter auf meinen Schoß.
    Mr. Radley hatte Erbarmen mit mir. »Du isst das doch nicht mehr, stimmt‘s?«, sagte er und zeigte auf das Hähnchenbein, das, seit ich es malträtiert hatte, sogar noch größer aussah.
    »Nein«, gab ich widerstandslos zu.
    »Gut. Ich hatte gehofft, du würdest das sagen.« Er beugte sich herüber, spießte es mit der Gabel auf und holte es sich auf seinen Teller, wobei er zwischen uns eine Spur aus Soßentropfen hinterließ.
    »Du hast dich ja so fein gemacht«, sagte er zu seiner Frau, als es ihm zum ersten Mal auffiel. »Gehst du noch aus?«
    »Nur mit Clarissa auf einen Drink in den Golfklub«, sagte Mrs. Radley. Clarissa war ihre jüngere, unverheiratete Schwester, die in Sevenoaks ein wildes Junggesellinnendasein genoss. »Übrigens«, sie sah auf die Uhr, »holt sie mich um halb zehn ab.«
    Plötzlich war alles vorbei. »Gott, ist es schon so spät?«, sagte Mr. Radley und stieß seinen Stuhl um, als er aufsprang. Das Hähnchenbein immer noch umklammert, brach er zur Arbeit auf. Das nahm Rad als sein Stichwort, um wieder nach oben zu verschwinden; Mrs. Radley entschwand in einer Wolke pfeffrigen Duftes zum Golfklub und überließ das Aufräumen Frances und mir. Auntie Mim saß noch am Tisch und aß ihren Rosenkohl zu Ende. Es tat mir gut

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