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Seejungfrauen kuesst man nicht

Seejungfrauen kuesst man nicht

Titel: Seejungfrauen kuesst man nicht Kostenlos Bücher Online Lesen
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wässrige Blase an der Hand hatte. Frances‘ Methode, Karotten zuzubereiten, bestand darin, die holzigen Enden abzuschneiden, sie dann in unhandliche Brocken wie Riesenbatterien zu hacken und ungewaschen in einen Topf zu werfen. Das Essen schien für zwanzig Personen auszureichen. Das Hähnchen war so groß wie unser Weihnachtstruthahn. Ich kam mir vor wie Gulliver in Brobdingnag. Alles war so anders als zu Hause, wo alles klein, zart und hübsch zubereitet war und dann in winzige Stückchen geschnitten und achtundzwanzigmal gekaut wurde.
    Gegen halb neun, als aus dem Hähnchen immer noch roter Saft in den See aus heißem Öl drumherum lief und die Kartoffeln immer noch weiß wie Wachs und hart wie neue Seifenstücke waren, machte ich mir langsam Sorgen, dass meine Eltern sich fragen würden, wo ich blieb. Ich schlich mich ins Wohnzimmer, wo Lexi, immer noch im Morgenmantel, auf dem Sofa lag und Vogue las.
    »Darf ich mal telefonieren? Ich muss meinem Vater Bescheid sagen, wann er mich abholen soll.«
    »Dich abholen? Ich dachte, du übernachtest hier. Warum sagst du ihm nicht, dass du hier bleibst, dann muss er nicht herkommen. Hmmm? Als ich jung war, habe ich jedes Wochenende mit meiner Freundin Ruthie verbracht.«
    »Oh nein ... Ich ... Sie erwarten mich zurück.« Mein erster Gedanke war, dass meine Eltern nicht ohne mich auskommen würden, aber gleich darauf fielen mir viele andere akzeptable Entschuldigungen ein. »Ich habe mein Nachthemd nicht dabei.«
    »Frances wird dir eines leihen.« Lexi hatte etwas Unermüdliches, das Widerstand zwecklos machte.
    »Gut, danke. Ich rufe nur an und frage um Erlaubnis.«
    »Übernachten?«, echote Mutter. »Wozu denn bloß?«
    »Zum Spaß.«
    Es folgte ein Schweigen, während sie hin und her überlegte. »Ich wüsste keinen Grund dagegen.« Ihre einzige Bedingung war, dass Vater mir Nachtwäsche und Zahnbürste vorbeibringen durfte, was Lexis Absicht, ihm den Weg zu ersparen, ziemlich sinnlos machte. »Und vergiss nicht, am Morgen das Bett abzuziehen. Das ist sehr wichtig«, waren ihre letzten Worte.

11
    Vater kam gerade, als wir das Abendessen auftischten. Lexi, die sich umgezogen hatte und jetzt ein schwarzes Samtkleid trug, das leicht zerknittert und am Gesäß verblichen war, schaffte es, vor mir an der Haustür zu sein. Frances hielt Growth in der Küche zurück.
    »Hallo, ich bin Frances‘ Mutter, Lexi«, sagte sie und hielt ihm die Hand hin.
    »Stephen Onions«, sagte Vater zaghaft.
    »Sie hätten sich doch nicht den weiten Weg machen müssen - wir hätten Abigail Nachtwäsche leihen können.«
    Als ich Vater in Jacke und Schlips mit der Reisetasche in der Hand dort in der Tür stehen sah, bekam ich plötzlich Heimweh. »Wollen Sie nicht reinkommen und mit uns zu Abend essen?«, fragte Lexi. »Oder etwas trinken?«
    »Oh nein, ich kann mich nicht aufhalten, vielen Dank. Hier«, sagte er und gab mir die Tasche. »Ich hoffe, du benimmst dich«, und er lachte nervös.
    »Oh, sie ist reizend«, sagte Lexi und presste mich an sich. »Eigentlich hat sie das Essen gekocht.«
    »Ah-ha«, sagte Vater, nicht sicher, ob das ein Witz war. »Tja, danke für Ihre Gastfreundschaft...« Und er zog sich in die Nacht zurück.
    Am Tisch war Mr. Radley aufgetaucht, um das Hähnchen zu tranchieren, während Frances Gemüse auf die Teller schaufelte. Das war das erste Mal, dass ich ihn richtig zu sehen bekam. Er war kleiner, als ich ihn mir vorgestellt hatte - ein paar Zentimeter kleiner als seine Frau mit braunem Haar, das sich lichtete und von vorne her langsam grau wurde, und sehr blauen Augen mit einer kleinen Auster aus Schleim in jedem Augenwinkel. Er trug einen Rollkragenpullover - etwas, das mein Vater für unerträglich dandyhaft gehalten hätte den er sich in die Hose gestopft hatte, die unter einem kleinen Bäuchlein mit einem Gürtel fest gehalten wurde. Eine ältere Frau mit einem Wollschal - Auntie Mim, nahm ich an - saß mit dem Rücken vor einem Kohlenfeuer, obwohl es ein warmer Abend war. Sie goss mit zitternden Händen Wasser in sechs Weingläser. Nur Rads Stuhl blieb leer. Growth zog Kreise um den Tisch wie ein Hai um ein Wrack.
    »Wie wunderbar dieser Vogel duftet«, sagte Auntie Mim. »Nein, ich möchte nichts davon, danke.« Frances hatte mir schon erzählt, dass sich Auntie Mim schon seit Menschengedenken nur von Rosenkohl, Kartoffeln und schwachem Tee ernährte. Als wäre das nicht schon seltsam genug, durfte keiner über diese seltsame Gewohnheit sprechen; sie

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