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Seejungfrauen kuesst man nicht

Seejungfrauen kuesst man nicht

Titel: Seejungfrauen kuesst man nicht Kostenlos Bücher Online Lesen
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sehen.« Als ob da irgendwelche Flecken wären!
    »An einer Hauptstraße wäre es etwas anderes«, räumte Vater ein.
    »Die Radleys wohnen an einer Hauptstraße, und sie haben keine Tüllgardinen«, warf ich ein.
    »Tja, Tüllgardinen brauchen viel Pflege«, sagte Mutter spitz. Sie schien die Vorstellung zu haben, offensichtlich auf Grund einer unvorsichtigen Bemerkung meinerseits, dass die Radleys in Schmutz und Elend lebten - was unfair war: Frances und ich kümmerten uns oft um den Haushalt.
    »Man fühlt sich durch sie so eingeschlossen«, sagte Vater, als Mutter anfing, die Vorhänge wieder auf die vulkanisierte Gardinenstange aufzufädeln.
    »Tja, ich habe heute den ganzen Tag damit verbracht, sie sauber zu machen«, sagte Mutter mit einer Stimme, die gleichzeitig mild und stur war. »Also kommen sie wieder dran.« Und sie stieg von der Couch aufs Fensterbrett, wobei sie meterweise Tüll hinter sich herzog wie einen Fächer, und hakte sie wieder da hin, wo sie hingehörten, wie eine Armee, die ihr Banner hochzieht.
    Die Einseitigkeit meines Arrangements mit Frances verstieß gegen das Anstandsgefühl meiner Mutter. »Wieso bringst du sie nie mit hierher?«, fragte sie eines Samstags, als ich ein paar Klamotten in eine Reisetasche stopfte. »Sie können dich schließlich nicht jede Woche ernähren.« Ich erzählte ihr nicht, dass wir uns meist selbst ernährten und eigentlich auch sie. Ich konnte ihr auch nicht den wahren Grund dafür sagen, warum wir immer zu Frances gingen. Wir hatten dort einfach mehr Spaß. Bei uns passierte nichts, während bei den Radleys immer etwas los war: Immer kam oder ging gerade jemand, der von neuen Abenteuern oder Katastrophen zu berichten wusste.
    Growth und Auntie Mim waren die einzigen Mitglieder des Haushalts, die garantiert immer da waren. Letztere trafen wir manchmal in der Küche vor einer grün schäumenden Pfanne Rosenkohl. Sie kochte das Gemüse mit so viel Natron, dass es, wie Lexi sagte, ernährungswissenschaftlich gesehen überhaupt keinen Wert hatte und es ein Wunder war, dass Tantchen noch keinen Skorbut hatte. Rad war samstags oft weg, spielte Rugby, schwamm oder nahm an Schachturnieren teil. Er schien keine Freundin zu haben oder irgendein Interesse, eine zu finden - für Frances, die ihn liebend gern aufzog, Anlass zu großer Heiterkeit. »In Rads Schule gibt es nur ein Mädchen«, sagte sie immer. »Und sie kommt nur zum Werkunterricht. Wie ist sie denn so, Rad?«
    »Fett, hässlich und dumm«, antwortete Rad dann, worauf Frances erfreut in schallendes Gelächter ausbrach.
    Wenn er zu Hause war, blieb Rad meist in seinem Zimmer. Manchmal warnte uns ein Rascheln aus der Speisekammer, dass er auf Streifzug war, und unter dem Vorwand, aufs Klo zu gehen, versuchte ich dann, ein Treffen auf der Treppe zu arrangieren, um eventuell Empfängerin eines knappen »Hallo« zu werden, das mir dann nächtelang Stoff für gequälte Träume lieferte. Natürlich zeigte er nie das geringste Interesse an mir. Ich wagte es nicht, Frances von meiner Vernarrtheit zu erzählen, weil sie es Rad sicher verraten hätte, wahrscheinlich in meiner Gegenwart, eine Demütigung, für die als Heilmittel nur Selbstmord in Frage gekommen wäre.
    Wegen seiner seltsamen Arbeitszeiten verschlief Mr. Radley normalerweise einen Teil des Tages, und um sein Schlafzimmer herum hatte Ruhe zu herrschen. Ich hatte inzwischen von Frances erfahren, dass er einst einen anständigen Beruf im Staatsdienst gehabt hatte, aber seit ein paar Jahren hatte er von kurzfristigen Gelegenheitsarbeiten gelebt, die letzte davon Hotelboy in einem Londoner Hotel. Wenn er auf den Beinen war, kam er oft in Francés‘ Zimmer, um ihr irgendeine lächerliche Frage zu stellen, wie zum Beispiel nach dem Verbleib eines speziellen Nahrungsmittels, das aus dem Kühlschrank verschwunden war, und blieb schließlich stundenlang, um uns von seiner Arbeit zu erzählen oder uns wegen der Schule ins Kreuzverhör zu nehmen. Er genoss es, wenn wir ihm Fragen stellten, und war nie um eine Antwort verlegen, aber irgendwie hatte ich kein großes Vertrauen in seine Erklärungen. Wenn mein Vater etwas erklärte, hatte man das Gefühl, von der Oberfläche eines tiefen Brunnens zu trinken, während man sich bei Mr. Radley des Gefühls nicht erwehren konnte, dass das, was man bekam, alles war, was vorhanden war - und ein bisschen mehr und wenn man nur ein wenig nachhakte, wäre er völlig ausgetrocknet. Ich wurde aus ihm nicht schlau: Er schien gern

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