Seejungfrauen kuesst man nicht
nur um einen weiteren Haufen Gräber zu sehen und so«, sagte Frances.
»Ich wette, Abigail musste sich schon die ganzen Ferien über nach dir richten«, sagte Rad. Bevor ich sagen konnte, dass es mir so oder so recht wäre, trieb Rad uns zurück zum Parkplatz und arrangierte alles: Er würde Frances und Lexi in Arras absetzen, die beiden Männer und ich würden nach Ypern fahren. Dass sie in dieser Woche schon einmal dort gewesen waren, schien sie nicht abzuschrecken. Später würde ich mich an diese Begebenheit erinnern als das erste Mal, dass Rad mehr Rücksicht auf mich genommen hatte, als die reine Höflichkeit gebot.
Ungefähr zehn Meilen vor Ypern beugte sich Mr. Radley, der fuhr, plötzlich vor und fing an, im Handschuhfach herumzuwühlen, wobei er eine Lawine aus Bonbonpapieren auslöste. »Gott, werft ihr Mädels denn nie was in den Mülleimer?«, wollte er wissen, während das Auto zum Mittelstreifen ausscherte. Rad griff nach dem Steuer. »Das ist gut, lenk du eine Minute.« Endlich fand er, was er suchte - eine Kassette, die er mit einer Hand aus ihrer Hülle schnipste, während er mit der anderen wieder das Steuer ergriff. »Ich dachte, wir sollten passende Musik dazu hören - Ich habe Bill gebeten, mir das auf seiner raffinierten Maschine aufzunehmen. Kennst du Brittens War Requiem ? Nein, natürlich nicht.« Er schob die Kassette in den Rekorder und drehte die Lautstärke hoch. Nach ein paar Minuten mörderischen Lärms wagte es Rad, die Lautstärke etwas zu reduzieren.
»Was ist los?«, fragte Mr. Radley. »Gefällt es euch nicht?«
»Nein«, sagte Rad.
»Es klingt ein bisschen langsam, wie ein Klagegesang«, sagte ich.
»Ja, natürlich tut es das, es ist ein verdammtes Requiem. Da kann man nicht den Ententanz erwarten. Ihr seid wirklich zwei Kulturbanausen. Ich gebe zu, Britten ist gewöhnungsbedürftig«, fuhr er fort. »Man muss sich erst einhören.«
Wir ertrugen das Dröhnen ohne jeden weiteren Kommentar, bis der Auftritt des Tenors, der »Anthem for Doomed Youth« sang, es sogar für Mr. Radley offensichtlich machte, dass Bills raffinierte Maschine nur mit der halben Geschwindigkeit aufgenommen hatte. Er betätigte abrupt die Eject-Taste. »Hmm, mit der Kassette scheint was nicht in Ordnung zu sein«, murmelte er und steckte sie ein. »Ich fand schon die ganze Zeit, dass es komisch klingt.«
Wir machten nur einen kurzen Rundgang durch Ypern. In der Kathedrale hatten ein paar ältere Nonnen Probleme damit, eine neue Lautsprecheranlage aufzubauen. Ein Stück Kabel hatte sich am Vorsprung einer Säule verfangen, und sie konnten zupfen, so viel sie wollten, sie bekamen es nicht wieder los. Ich sah, wie sie zweifelnd ihre Leiter beäugten. Sie lehnte unsicher an der Säule und wackelte, wenn man sie versuchsweise anstupste. Ich hatte plötzlich das Bild vor Augen, wie eine der Nonnen oben auf der Leiter thronte wie ein Pirat in einem Krähennest, und stieß Rad an, um ihn darauf aufmerksam zu machen. »Schau«, sagte ich und deutete auf sie. Er muss mich missverstanden haben, denn er sagte: »Oh« und eilte sofort hin, um ihnen zu helfen. Einen Augenblick später kletterte er die Leiter hoch, während die zwei Nonnen sie unten fest hielten und ängstlich hinaufblickten. Ich kam mir durch diesen Zwischenfall ziemlich klein vor, obwohl ich nicht genau wusste, wieso.
Auf dem Weg nach draußen blieb ich unter der marmorweißen Christusfigur mit dem goldenen Heiligenschein aus Dornen stehen und zündete eine Kerze an.
»Ich wusste gar nicht, dass du religiös bist«, sagte Rad, als ich die Kerze auf einem der wenigen freien großen Nägel auf dem Ständer aufspießte, der mit geschmolzenem Wachs bespritzt war wie mit Vogelmist.
»Nun, ich glaube an die Kreuzigung«, sagte ich.
Rad sah nachdenklich aus. »Ja, genau das würde passieren.«
»Du bist Atheist, stimmt‘s?«, sagte ich, eine kühne Äußerung angesichts dieser Umgebung.
»Nein, das würde ich nicht sagen«, antwortete er und hielt mir die Tür auf. »Ich bin nur ein ›netter Mensch‹. Nicht praktizierend.«
Als wir durch das Menentor fuhren, verlangsamte Mr. Radley das Tempo und deutete auf die Namen, die auf jede Fläche gemeißelt waren. »Sieh sie dir alle an, Blush. Und das sind nur die, deren Leichen nicht gefunden wurden.«
»Wieso wurden sie nicht gefunden? Wie konnten so viele Menschen verschwinden?«, fragte ich verwirrt.
»Tja, wenn man zum Beispiel von einer Granate getroffen wurde, waren die ... äh ... Stücke
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