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Seejungfrauen kuesst man nicht

Seejungfrauen kuesst man nicht

Titel: Seejungfrauen kuesst man nicht Kostenlos Bücher Online Lesen
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anhabt.«
    »Danke«, sagte Lexi.
    Nach dem Frühstück nahm mich Mr. Radley beiseite, als ich auf dem Treppenabsatz auf Frances wartete, die ihren Fotoapparat aus unserem Zimmer holen wollte. An seinem Kinn hing ein Croissantkrümel, den ich am liebsten weggewischt hätte, und vorne auf seinem Hemd waren noch mehr Krümel. Er war der nachlässigste Esser, den ich je gesehen hatte: Der Abfall eines einzigen Stücks Baguette konnte bis zu allen vier Ecken des Tisches reichen.
    »Ich nehme an, ihr Mädels habt euer ganzes Geld für Krimskrams ausgegeben, was?«, sagte er.
    Ich schüttelte den Kopf - abgesehen von meinem holländischen Louvrekatalog hatte ich mir nur ein T-Shirt mit dem zweideutigen Aufdruck NICE gekauft. (Ich sollte es nur ein einziges Mal tragen, bis es von Mutter für billig und scheußlich erklärt und in eine untere Schublade verbannt wurde.) Lexi hatte alle finanziellen Beiträge für Essen und Benzin abgelehnt, sodass mein Bündel Geldscheine noch weitgehend unversehrt war.
    »Oh. tja, in dem Fall könntest du mir vielleicht hundert Francs leihen? Ja? Oh, das ist großartig. Ich habe kein Geld mehr, und es lohnt sich nicht, für einen Tag noch einen Scheck einzulösen. Ach, gib mir lieber zweihundert.«
    Wie versprochen verbrachten wir den Vormittag auf der Kreidekuppe von Vimy. Wir hatten beschlossen, uns alle in ein Auto zu quetschen. Lexi, Frances und ich saßen auf dem Rücksitz; Rad fuhr. Alle paar Meilen zeigte Mr. Radley uns einen neuen Friedhof am Straßenrand - Reihen um Reihen identischer Grabsteine wie weiße Zähne, die aus dem Rasen wuchsen.
    »Schau nur, Blush«, sagte Mr. Radley und drehte sich um, damit er mein Gesicht besser sehen konnte. »Tausende davon, nur Namen auf Steinen. Und doch war jeder Einzelne von ihnen einst ein lebendiges, atmendes menschliches Wesen - genauso wie Rad hier - und die meisten davon Freiwillige, frisch von der Schulbank, die alles noch vor sich hatten, die Klügsten und Besten ihrer Generation.« Als einziger Neuling wurde ich dazu auserwählt, in den Genuss von Mr. Radleys weisen Ansichten zu kommen. Meine Unwissenheit in Bezug auf den Ersten Weltkrieg entsetzte ihn. Ich bekam gerade noch die Daten zusammen; Erzherzog Ferdinand, Haig, Sir John French, Kaiser Wilhelm waren nur Namen. Es hätten auch Rennpferde sein können.
    »Du weißt nicht, wann die Schlacht an der Somme war? Großer Gott im Himmel, was bringen sie euch an dieser Schule überhaupt bei? Ich nehme an, da ich mit Frances zusammenlebe, sollte ich an Unwissenheit auf diesem Niveau gewöhnt sein, aber von dir habe ich ehrlich mehr erwartet, Abigail.« Ich war daran gewöhnt, auf diese Art von Mr. Radley eingeschüchtert zu werden. Jeder, dem es nicht gelungen war, genau denselben Wissensschatz anzusammeln wie er selbst, war Zielscheibe für Mitleid und Spott: Etwas weniger zu wissen war ein Beweis für Idiotie; mehr zu wissen war sinnlos, nutzlos, wissenschaftlich.
    »Wenn es ihnen nie beigebracht wurde, wie können sie es dann wissen?«, sagte Lexi vernünftig.
    »Ich weiß, ich weiß, es ist ihre Ausbildung. Wenn das nicht ein zu starkes Wort dafür ist. Hast du Goodbye to All That gelesen? Nein, natürlich nicht. Es ist ein großartiges Buch. Ich lese es jedes Jahr wieder. Ich borge dir mein Exemplar.«
    Ich entschuldigte mich für meine Dummheit und sagte, ich würde Goodbye to All That bestimmt lesen. »Aber ich borge es mir nicht aus. Ich kaufe es mir. Wenn ich mir schon die Mühe mache, ein Buch zu lesen, möchte ich es auch gern behalten.« Ich konnte mir gut vorstellen, in welchem Zustand Mr. Radleys Exemplar war. Erst an diesem Morgen beim Frühstück hatte er Lexis neue gebundene Biografie von Jackie Onassis aus ihrer Tasche geholt, und als er feststellte, dass ein paar der hinteren Seiten noch nicht aufgeschnitten waren, hatte er sein buttriges Messer genommen und versucht, sie zu trennen.
    »Schenk Dads Version vom Krieg lieber nicht zu viel Beachtung«, sagte Rad und sah mich im Rückspiegel an. »Er romantisiert gern. Er glaubt, jeder, der an der Front gestorben ist, war ein Poet.«
    »Es war auch ein romantischer Krieg. Es ging um Unschuld und Opferbereitschaft - Konzepte, die eure herzlose Generation sowieso nicht versteht. Oder könnt ihr euch etwa vorstellen, dass heutzutage irgendein Achtzehnjähriger losstürzt, um Soldat zu werden?«
    »Na, das ist doch ein Fortschritt, oder?«, sagte Rad.
    »Schaut, dort ist Vimy«, sagte Mr. Radley, froh, um einen Streit

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