Seekers - Die Suche beginnt - Hunter, E: Seekers - Die Suche beginnt
Leben bleiben, um ihn zu finden.
Als die Sonne höher stieg, erwärmte sich die Luft immer mehr und lastete schwer auf Kalliks Fell. Sie keuchte vor Anstrengung, und inzwischen war es manchmal fast eine Erleichterung, ins Wasser zu springen, wenigstens fand sie dort ein bisschen Abkühlung.
Es war nicht allein die Sorge um ihren Bruder, die sie antrieb. Sie wusste auch, dass sie zum Festland gelangen musste, solange noch genügend Eis vorhanden war. Es durfte nicht passieren, dass ihr draußen auf dem Meer, fernab vom Land, das letzte Stück Eis unter den Pfoten wegschmolz. Von ihrem derzeitigen Standort aus konnte sie noch nicht den geringsten Hinweis auf das Festland ausmachen, und es war ausgeschlossen, dass sie es von hier aus schwimmend erreichen würde.
Glücklicherweise konnte sie an den Gerüchen, die der Wind herantrug, erkennen, in welcher Richtung sich das Festland befand. Es waren seltsame Düfte, schwer voneinander zu unterscheiden, doch jedenfalls so unvertraut, dass sie einer anderen Welt angehören mussten als der ihr bekannten aus Eis, Schnee und dunklem Meerwasser. Sie hoffte, dass Taqqiq dieselben Schlüsse gezogen hatte und in derselben Richtung unterwegs war. Vielleicht war er sogar schon auf Land gestoßen … aber was würde er dann tun? Keiner von ihnen wusste, wie man fernab des Eises überleben konnte. Nisa hätte es ihnen beigebracht und, solange sie noch mit Lernen beschäftigt waren, auf sie aufgepasst.
Die Dämmerung brach an, doch Kallik lief weiter, so weit in die Nacht hinein, wie sie konnte, bevor die Tatzen ihr den Dienst versagten. Schließlich machte sie Halt auf der stärksten Eisscholle, die sie finden konnte. Sie schlief, bis ein neuer, klarer Tag anbrach, der wieder erschreckend sonnig zu werden drohte. Inzwischen hasste sie die Sonne, nicht nur, weil ihr zu heiß war, sondern auch, weil das Eis immer schneller schmolz.
Sie verlor einige Male den Halt auf dem Eis, rutschte mehrfach sogar über die Kante ins Wasser. Ihre Tatzen waren breit und normalerweise perfekt geeignet, mit dem rutschigen Untergrund fertigzuwerden, doch jetzt waren sie so müde und taub, dass es ihr fast vorkam, als würde sie auf Eisstümpfen gehen. Dass sie sich dem Festland näherte, konnte sie daran erkennen, dass es immer weniger große Eisschollen gab und immer mehr Wasser, das sich mit großer Geschwindigkeit bewegte. Ihr Fell war ständig nass, und sie erblickte mehrere große Vögel, die auf dem Wasser schwammen oder über das Eis hinwegflogen. Sie waren weiß und grau, hatten die Farbe des schneeverhangenen Himmels und machten laute, kreischende Geräusche, die in Kalliks Ohren schmerzten.
Gegen Ende des Tages konnte Kallik sich vor Hunger kaum noch auf den Füßen halten. Gerade als die Sonne wie ein orange-roter Feuerball am Himmelsrand versank, entdeckte sie plötzlich vor sich, fast eine Himmelslänge entfernt, einen anderen Eisbären.
»Taqqiq?«, schrie sie und rannte los. »Taqqiq!«
Fauchend drehte der Bär sich um, und sie sah, dass seine Schnauze blutgetränkt war. Vor ihm lag der Kadaver einer Robbe. Es konnte nicht Taqqiq sein, dieser Bär war viel zu groß, bestimmt hatte er den letzten Feuerhimmel schon miterlebt. Und er war nicht nur groß, sondern auch wütend und wild entschlossen, seine Beute zu verteidigen.
Kallik kam rutschend zum Stehen, machte kehrt und flüchtete. Sie drehte sich erst um, als sie den nächsten Wasserabschnitt erreicht hatte. Mit Erleichterung sah sie, dass der Bär ihr nicht gefolgt war. Aber der Anblick der Robbe hatte ihr Hungergefühl wieder geweckt und sie konnte an nichts anderes mehr denken als ans Fressen. Sie schwamm zur nächsten Eisscholle, und während sie weiterstapfte, hielt sie schnuppernd die Nase in die Luft, konzentriert auf einen ganz bestimmten Geruch. Schließlich fand sie ein Loch im Eis, das nach Robbe roch. Sie beschnüffelte es von allen Seiten, wie sie es bei ihrer Mutter gesehen hatte. Sie erinnerte sich, wie Nisa neben dem Loch zu liegen pflegte und geduldig wartete und wartete. Nun, wenn sie so lange stillhalten musste, dann hatte das immerhin den Vorteil, dass sie sich dabei ein bisschen ausruhen konnte.
Kallik legte sich auf den Bauch und ließ den Kopf auf den Vordertatzen ruhen. Ihre Augen waren unablässig auf das Loch gerichtet, damit sie bei der kleinsten Bewegung, dem leisesten Wasserplätschern sofort zuschlagen konnte. Sie war körperlich erschöpft, aber zu hungrig, um einzuschlafen. Auch die gespannte
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