Seekers. Sternengeister: Band 6 (German Edition)
glauben wollen. Jetzt wurde er gezwungen, der unumstößlichen Tatsache ins Auge zu blicken. Seine ganze Welt schrumpfte in dieser einen, eiskalten Erkenntnis zusammen.
Ich habe versagt. Ich hätte Ujurak behüten müssen.
»Er wusste, dass er sterben würde«, klagte Lusa. »Warum hat er nichts unternommen, um sich zu schützen?«
Kallik schnäuzelte Lusas Schulter, beinahe, als würde sie ein Junges trösten. »Er hat sein Leben gegeben, um unsere zu retten. Er wusste, was er tat. Jetzt ist seine Reise zu Ende.«
»Aber er war mein Freund!«, rief Lusa, die Schnauze in den Himmel gereckt.
»Er war unser aller Freund«, erinnerte sie Kallik. »Wir werden –« Ihre Stimme begann zu zittern. Sie musste eine Pause einlegen und mehrmals schlucken, bevor sie weitersprechen konnte. »Wir werden ihn nie vergessen, und solange die Erinnerung an ihn in unseren Herzen lebt, wird er immer bei uns sein.«
»Er war der beste Freund, den ein Bär haben kann«, murmelte Toklo.
Doch noch während er die Worte aussprach, noch während er Kallik betrachtete, die Lusa zu trösten versuchte, spürte Toklo, wie ihm das Herz brach.
Ich kann nicht glauben, dass es hier endet!
Er hatte immer gewusst, dass er eines Tages Abschied nehmen würde von seinen Freunden, dass er, sobald ihre Reise beendet und ihre Mission erfüllt war, als Braunbär allein im Wald leben würde. Aber er hatte nie daran gedacht, dass einer von ihnen dann tot sein könnte, wenn dieser Augenblick gekommen war.
Nein, dachte Toklo, auf Ujuraks kleinen, geschundenen Körper blickend, der so hilflos wirkte inmitten des Schnees.
Er stieß einen Schrei aus, in dem sein ganzer Zorn, sein ganzer Schmerz lag. Als er von den Berggipfeln widerhallte, schien der Schnee zu erzittern, als würde sich erneut eine Lawine lösen. Toklo war es egal. Hat er es von Anfang an gewusst?, fragte er sich. Wozu all die Kämpfe, die ständige Jagd nach Beute, wozu haben wir mühsam gelernt, auf dem Eis zu überleben, wenn am Ende so etwas passiert? Den ganzen Weg sind wir gekommen und dann stirbt Ujurak einfach.
Der Wind blies ein bisschen Schnee auf Ujurak und bestäubte sein braunes Fell. Dankbar, sich beschäftigen zu können, drehte Toklo sich um und begann mit kraftvollen Schaufelbewegungen seiner Hinterbeine, Ujurak ganz und gar unter dem Schnee zu begraben.
»Tut mir leid, Ujurak«, flüsterte er. »Ich kann dich nicht mit Steinen, Erde und Zweigen bedecken, wie ich es tun würde, wenn wir im Wald wären. Dieser Schnee muss genügen.«
Immer verbissener ging er zu Werke und schaufelte gewaltige Schneeladungen auf den toten Freund. »Wir hätten niemals hierherkommen dürfen«, brummte er. »Ich hätte mich einfach weigern sollen, Ujurak auf seiner wahnwitzigen Reise zu begleiten. Wir hätten bei den Bäumen bleiben sollen, dort, wo wir hingehören.« Der Schmerz wütete in ihm, so heftig, dass er fast keine Luft bekam. »Wäre ich nur mutig genug gewesen, hätten wir unser eigenes Revier haben können, nur für uns, mit reichlich zu fressen …«
Eine Stimme hinter ihm murmelte: »Ach, Toklo, du warst weiß der Himmel mutig genug!«
Toklo hatte das Gefühl, sein Herz schien vor Schreck stehen zu bleiben. Er wirbelte herum. »Ujurak?«
Ein Braunbär kam durch den Schnee auf ihn zugetrottet, offenbar aus der Richtung der Höhle. Alles andere – Ujuraks Grabhügel aus Schnee, die Gestalten Lusas und Kalliks, die einige Bärenlängen entfernt zusammenkauerten – lag wie hinter einem Schleier.
Toklo richtete seinen Blick auf den nahenden Bären. Ungläubig erkannte er die kräftigen Schultern, den Kopf – und die Narben auf der Schnauze.
»Mutter!«, rief er.
Oka blieb auf der anderen Seite von Ujuraks Grab stehen und sah Toklo an. In ihrem Blick lag all die Liebe, nach der er sich als Junges immer gesehnt hatte. »Ich bin stolz auf dich«, sagte sie. »Du bist der Grund dafür, dass Ujurak so weit gekommen ist. Deinetwegen konnte er seine Bestimmung erfüllen.«
Doch auch diese Worte konnten Toklo nicht trösten. »Es war nicht seine Bestimmung, von einer Lawine zermalmt zu werden«, knurrte er.
»Seine Bestimmung war es, die Insel zu retten«, erklärte Oka. »Und dass er das geschafft hat, ist dir zu verdanken. Immer wieder hast du kämpfen müssen, um ihn zu retten, immer wieder hast du Beute für ihn erjagt, immer wieder hast du ihn vor Gefahren bewahrt. Du hast ihn hierhergebracht, genau wie es dir von Anfang an bestimmt war.«
Toklo wurde von Zorn
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