Seele zum Anbeißen: Roman (German Edition)
mindestens eineinviertel Stunden vor der Tür stehen lassen. Denn genauso lang hat er gebraucht, um das Auto ungefähr dreihundert Meter weit zu bewegen. Ich bin also ziemlich geladen, als ich die Haustür aufreiße. Dann trifft mich allerdings der Schlag!
»Grüß Gott, Dorle.« Uli strahlt mich an.
Ich sage vorsichtshalber erst mal gar nichts. Was vielleicht auch daran liegt, dass es mir tatsächlich die Sprache verschlagen hat.
»Du sagst ja gar nichts«, stellt er ganz richtig fest. »Soll i lieber schwäbisch mit dir schwätze? Des kann i au no ganz gut.«
»Nein, nein, schon in Ordnung.«
Ich versuche ein Lächeln – vielleicht lenkt das ja etwas von meiner äußeren Erscheinung ab, aber sogar das Lächeln misslingt mir. Vermutlich sehe ich eher so aus, als würde ich jeden Moment in Tränen ausbrechen, denn Uli fragt besorgt: »Dorle, ist bei dir auch wirklich alles in Ordnung?«
Weil ich die ganze Zeit über an Ulis rechtem Ohr vorbei auf die Straße schaue (das ist die einzige Möglichkeit, ihm nicht in die Augen zu sehen, was mich noch um einiges konfuser machen würde), habe ich Frau Stützle im Blick, die wie gebannt auf unsere Haustür starrt und dabei augenscheinlich vergisst, dass ihr Mund offen steht.
»Komm rein«, sage ich in Richtung von Ulis rechtem Ohr, versuche, den Oberkörper etwas zurückzulehnen und verschränke die Arme vor der Brust. Diese Haltung signalisiert Abwehr (das weiß ich noch aus dem Volkshochschulkurs:
So lernen Sie Ihre Körpersprache kennen!
, sehr empfehlenswert, hat mir schon oft geholfen), und genau das brauche ich im Moment. Abwehr!
Leider steht Uli mir jetzt in genau derselben Haltung gegenüber. Aber weil ich mir nicht ganz sicher bin, ob er die Sprache des Körpers auch kennt, kann ich das ignorieren. »Also? Was ist?«, frage ich mit inzwischen etwas festerer Stimme.
»Dorle, der Rudolf hat mir grad erzählt, dass ihr schon wieder fahren wollt.«
»Schön, was er dir alles erzählt. Ihr zwei habt ja bereits ein richtiges Vertrauensverhältnis zueinander.«
Er scheint völlig unbeeindruckt von der eisigen Freundlichkeit, mit der ich das sage; er lächelt mich sogar an, soweit ich das sehen kann, denn ich konzentriere mich immer noch auf sein rechtes Ohr. Er lehnt jetzt am Türrahmen, hat die Hände inzwischen locker in den Hosentaschen und wirkt so was von entspannt, dass man direkt neidisch werden könnte.
»Aha, Rudolf hat dir also erzählt, dass wir heute fahren«, nehme ich unseren Gesprächsfaden wieder auf. »Grandios. Und weshalb bist du jetzt hier?«
Er seufzt, ganz leise nur, aber ich habe es gehört. Und als ich ihm für Sekundenbruchteile in die Augen schaue, spüre ich, dass er nicht im Geringsten so locker ist, wie es scheint. Und mir wird plötzlich heiß und kalt. Denn unpassenderweise ist mir gerade eingefallen, wie wir uns das erste Mal voreinander ausgezogen haben, wie zärtlich er mich gestreichelt hat, wie ...
Aber dann ist auf einmal Rudolf da, und von einer Sekunde auf die andere komme ich wieder im Hier und Jetzt an, und das ist auch gut so. Falls er sich über meine herzliche Begrüßung wundern sollte, so lässt er es sich zumindest nicht anmerken, im Gegenteil, er scheint es zu genießen, wie leidenschaftlich ich ihm um den Hals falle.
»Was sagst du dazu«, meint er, als ich ihn wieder loslasse. »Uli hat dir ja bestimmt schon alles erzählt.«
»Ich bin noch gar nicht dazu gekommen«, murmelt Uli verlegen.
»Klärt mich jetzt jemand mal auf, was los ist?«, rufe ich ärgerlich.
Rudolf richtet den Zeigefinger auf Uli. »Du kannst dich bei ihm bedanken. Stell dir vor, ich will gerade losfahren, da kommt er zufällig vorbei und merkt sofort, dass mit dem Motor irgendwas nicht in Ordnung ist, er gibt nämlich höchst verdächtige Geräusche von sich. Nicht auszudenken ... Motorschaden auf der Autobahn.«
»Motorschaden? Aber vorhin lief das Auto doch noch tadellos. Das verstehe ich jetzt aber wirklich nicht.«
»Frau und Technik«, meint Rudolf mit gemeinem Grinsen. »Ich habe das Geräusch natürlich auch gehört, aber nie im Leben daran gedacht, wie gefährlich die Sache ist. Motorschaden!«, wiederholt er. »Doreen, du weißt hoffentlich, was das bedeutet.«
»Nein, absolut keine Ahnung. Ich weiß nicht, was ein Motor ist, und ich weiß auch nicht, was ein Schaden ist!«, rufe ich wütend. »Das Auto ist völlig in Ordnung; immerhin bist du mindestens hundertvierzig gefahren. Außerdem kann ich mir nicht vorstellen, dass
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