Seele zum Anbeißen: Roman (German Edition)
Wolfgang, das ist ja entsetzlich, das könnt ihr doch nicht machen.«
Vor meinem geistigen Auge tauchen alle Scheidungen auf, die ich in den letzten Jahren mitgekriegt habe (glücklicherweise nie als Beteiligte, sondern immer als Freundin, die Trost spenden konnte), und ich weiß: Diesen Krieg würde ich meinem Bruder liebend gern ersparen. »Kann ich dir denn irgendwie helfen?«, frage ich vorsichtig.
Wolfgang zögert. »Ich weiß nicht, es wäre wahnsinnig viel von dir verlangt, aber ...«
»Jetzt sag schon. Ich meine es ernst.«
Ich sehe meinen Bruder förmlich vor mir, wie er sich windet. Aber so war das schon immer, Wolfgang glaubt, alles allein zu schaffen. Erst wenn ihm das Wasser buchstäblich bis zum Hals steht, sagt er einen Ton. Wie damals, als wir alle auf dem Weg zu seiner Abiturfeier waren, die ganze Familie einschließlich Verwandtschaft (wenn ich mich richtig erinnere, zwanzig Personen), denn natürlich waren meine Eltern ungeheuer stolz, dass Wolfgang es doch noch geschafft hatte, allen Unkenrufen zum Trotz. Erst auf dem Parkplatz vor der Schule rückte Wolfgang schließlich damit heraus, dass er durchgefallen war, und selbst dann musste man ihm noch jedes zusätzliche Wort aus der Nase ziehen. Wie auch jetzt wieder. »Nun spuck’s schon aus«, ermuntere ich ihn.
»Du könntest uns sehr helfen, aber ... Doro, du hast doch deine eigenen Probleme.«
So
kommen wir nicht weiter. »Soll ich mal mit Renate reden?«, schlage ich vor, weil Wolfgang immer noch schweigt. »So von Frau zu Frau klärt sich bestimmt einiges.«
»Nein, nein, auf keinen Fall! Das würde alles nur noch schlimmer machen. Ich denke, Renate und ich brauchen vermutlich erst einmal etwas Zeit, um überhaupt wieder miteinander ins Gespräch zu kommen.«
»Das ist schon mal eine sehr gute Idee«, lobe ich ihn. »Und welche Rolle spiele ich dabei?«
Er zögert. Als ich mich ein paar Mal ungeduldig räuspere, sagt er schließlich: »Doro, das Ganze ist für uns erst einmal ein reines Zeitproblem. Seit drei Wochen fährt Renate jeden Mittag um halb zwei zu Papa, ich komme vier Stunden später nach, wir bleiben bis halb acht, manchmal übernachtet Renate sogar ... So kann das nicht weitergehen.«
»Und das heißt im Klartext?«
»Renate und ich finden, dass du dich jetzt eine Weile lang ruhig mal um Papa kümmern könntest.«
»Und wie stellst du dir das vor?«, rufe ich verärgert. Gerade eben ist mir auch noch die Milch übergekocht, es stinkt entsetzlich, und der ganze Herd ist verklebt. »Ich habe schließlich einen Job in Berlin, einen ziemlich unsicheren übrigens, und im Gegensatz zu dir kann ich mir nicht gerade mal so freinehmen. Ich zahle jede Menge Miete und ...«
»Das Finanzielle spielt keine Rolle«, unterbricht Wolfgang mich. »Selbstverständlich bezahlen wir alles. Du musst dich nur um Papa kümmern. Viel musst du ja nicht tun; anziehen, rasieren, waschen, das macht er alles noch selbst. Wichtig ist nur, dass jemand bei ihm im Haus ist. Einsamkeit ist nämlich das Schlimmste für ihn.«
»Du meinst also, ich soll hierbleiben und die Hausdame spielen? Aha! Was ist mit Rudolf? Du vergisst, dass
ich
eine intakte Beziehung habe. Und ich will auch, dass es so bleibt.«
»Mein Gott, dann seid ihr eben mal eine Weile getrennt. Eine intakte Beziehung hält das aus. Übrigens gibt es auch Telefon, oder man schreibt sich zur Abwechslung ganz altmodisch Liebesbriefe. Was weiß ich denn.«
Ja, was weiß mein Bruder schon von der Liebe, denke ich und schabe verbissen die eingebrannten Milchreste von der Herdplatte ab. Wolfgang hat inzwischen aufgegeben und den Hörer an Renate weitergereicht, die mir vorheult: »Doro, das ist doch nur für ganz kurze Zeit. Bis sich alles geklärt hat. Wolfgang und ich vertragen uns bestimmt bald wieder. Wir brauchen nur eine Auszeit, versteh doch.«
»Ich werde darüber nachdenken«, knurre ich und lege einfach auf.
Erst eine ganze Weile später – es ist ein traumhafter Sommerabend, mein Hefekuchenprojekt habe ich auf später verschoben und stattdessen mich zu Papas Freude mit ihm in den Garten gesetzt – fällt mir ein, dass das Problem eigentlich ja schon fast gelöst ist.
»Bin gleich wieder da, muss nur mal rasch telefonieren«, sage ich und renne in bester Stimmung ins Haus. Aber dann reagiert mein Bruder äußerst merkwürdig.
»Nein, Doro, auf keinen Fall, auf gar keinen Fall! Das kommt überhaupt nicht in Frage!«
Ich verstehe die Welt nicht mehr. Da unterbreite ich
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