Seele zum Anbeißen: Roman (German Edition)
Neiderfüllt starre ich ihnen nach. Doch einer der Radler scheint Konditionsschwächen zu haben. Er hält an … dreht sich zu mir um …
»Dorle?«
Uli!, will ich rufen, aber da kommt kein Ton.
Als er mich auffängt, durchzuckt mich der Gedanke, dass ich in den letzten vierundzwanzig Stunden häufiger in seinen Armen gelegen habe als in Rudolfs. Mit einem Zug leere ich die Wasserflasche, die er mir reicht, und augenblicklich löst sich meine Zunge vom Gaumen und ich sage: »Bei mir geht gerade alles daneben. Und jetzt auch noch die Kette!« Mit beiden Händen wische ich mir den Schweiß aus dem Gesicht; viel zu spät fällt mir ein, wie verschmiert ich jetzt wohl aussehe.
»Entschuldige Uli, du musst ja einen entsetzlichen Eindruck von mir bekommen. Ich will lieber gar nicht wissen, was du jetzt denkst.«
Seine Stimme klingt rau, als er meint: »Du weißt genau, was ich denke.«
Während ich noch überlege, was ich darauf antworten soll, ob ich überhaupt antworten soll, ob wir damit nicht besser sofort aufhören sollten, weil es viel zu gefährlich ist, ertönt oben an der Kreuzung zur Eckstraße eine helle Frauenstimme: »Uli, was isch denn? Mir wollet weiter!«
»Bitte geh«, sage ich.
»Ich muss endlich mit dir reden, über damals. Warum hast du …«
»Das ist doch Vergangenheit.« Ich schaue ihn an, fühle einen Moment unendliche Wehmut. »Es ist besser, glaub mir. Und es tut mir auch nicht gut.« Ich lächle, aber es ist ein trauriges Lächeln.
Die Radlerin brüllt die Straße herunter: »Mensch, Uli, die andre sind scho mindeschtens oin Kilometer weiter! Kommsch endlich!«
»Bitte geh«, wiederhole ich.
Wortlos schwingt er sich aufs Rad.
Ich stelle einen neuen Weltrekord im Fahrradschieben auf (unter erschwerten Bedingungen, denn es geht ausschließlich bergauf, und lediglich die Aussicht, mindestens fünfhundert Kalorien zu verbrennen, hindert mich daran aufzugeben) und bin Glockenschlag Viertel nach drei wieder daheim. Wo ich allerdings bereits von Frieda erwartet werde, die zur Generation Überpünktlich gehört.
Meine Tante, in einem blauweiß gepunkteten Kleid, eine Häkelstola locker über die Schulter geworfen, lehnt an ihrem türkisfarbenen Amischlitten (sechziger Jahre vermutlich, mit riesigen Heckflossen und Ausmaßen, die jede Parkplatzsuche garantiert zum puren Albtraum machen) und fächelt sich mit ihren weißen Handschuhen Kühlung zu. Als sie mich kommen sieht, lächelt sie, und ich bin schon mal erleichtert; sie scheint mir jedenfalls nichts mehr nachzutragen.
»Tut mir echt leid«, murmle ich, während ich ihr ein Luftküsschen links, ein Luftküsschen rechts gebe. »Schön, dass du da bist. Eigentlich wollte ich ja Kuchen holen, aber dann ist mir die blöde Kette abgesprungen.« Damit habe ich Frieda schon einmal darauf vorbereitet, dass mit Kaffeetafel nichts ist, und ich lehne das Fahrrad an die Hauswand.
Nachsichtig winkt Frieda ab. »Liebes, ehrlich gesagt, du siehst aus, als hättest du dich in einer Pfütze gewälzt. Aber das lässt sich ja sicherlich beheben. Sag mal, muss ich mir Sorgen machen, weil niemand aufmacht? Ich habe schon mehrmals geklingelt.«
»Entschuldige, dass du warten musstest«, sage ich, als ich hastig die Haustür aufschließe. »Ich fürchte, ich bin heute wirklich etwas durcheinander.«
Vermutlich bin ich mehr als etwas durcheinander. Zum Beispiel kann ich mich beim besten Willen nicht daran erinnern, dass Frau Blumer an diesem Nachmittag kommen wollte. Aber sie scheint da zu sein, an der Garderobe steht nämlich ihre Korbtasche. Und wenn ich mich nicht sehr täusche, hat sie bereits Kaffee gekocht, zumindest lässt der Duft, der durchs Haus zieht, darauf schließen.
Ich stürze in die Küche und erfahre: Frau Blumer, diese echte Perle, hat gerade eben den Tisch im Garten gedeckt. »Des gute Service, des war doch recht so?« Und außerdem hat sie selbstgebackenen Bienenstich mitgebracht. »Tante Frieda isst den doch so gern. Mit guter Buttercreme und it dem billige Vanillezeigs, des dr Bäcker immer neimacht.«
»Ausgezeichnet«, lobe ich. »Frau Blumer, ich weiß gar nicht, wie ich Ihnen danken soll. Übrigens, ist mein Mann zufällig schon zurück?«
Sie sieht mich verständnislos an.
»Herr Dvořák … Rudolf«, helfe ich nach.
Nein, den »Herrn Dokter« habe sie noch nicht gesehen; sie sei ja auch erst seit einer Weile da. Papa habe sie übrigens gerade vorhin im Rollstuhl in den Garten geschoben, es gehe ihm zwar nicht so gut, aber
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