Seele zum Anbeißen: Roman (German Edition)
Papierknäuel über den Flur kicke; sie zieht es vor, mit einem eleganten Sprung durch das geöffnete Fenster im Garten zu verschwinden.
Ich überlege, ob ich Renate anrufen sollte. Wer weiß, womöglich war sie gestern ja wirklich verzweifelt und ich ihre letzte Rettung. Sehr viel Lust habe ich zwar nicht auf dieses Gespräch, aber immerhin ist sie meine Schwägerin. Und so wähle ich schließlich ihre Handynummer, lege aber sofort auf, als sie sich mit sehr fröhlicher Stimme meldet. Klar ist: Renate braucht meine Hilfe ganz bestimmt nicht! Statt Telefonseelsorge zu leisten, werde ich lieber etwas für mich tun.
Die Gelegenheit, sich entspannt in den Garten zu legen und endlich mal ein bisschen braun zu werden, ist günstig, denn Herr Stützle fährt soeben sein Auto aus der Garage, wartet mit laufendem Motor vor der Haustür, und dann kommt auch schon Frau Stützle, sonntagsmäßig fein gemacht, und steigt ein. Ich stehe hinter der Gardine und sehe die beiden im Auto noch eine geraume Zeit heftig diskutieren, aber dann gibt Herr Stützle endlich Gas.
Ich lege mich in den Liegestuhl, und nach einer Weile stellt sich das herrliche Gefühl ein, endlich richtig Ferien zu haben. Um mich herum herrscht tiefer Frieden: keine neugierigen Nachbarn, kein Rasenmäher, keine Häckselmaschine, kein Autoverkehr, niemand, der etwas von mir möchte, und keine durchgeknallte Mara mit ihrem hektischen »Das muss heute noch fertig werden, heute noch!«.
Der Glockenschlag der Pfarrkirche lässt mich aufschrecken. Ich muss eingeschlafen sein. Es ist bereits zwei und von Rudolf, so stelle ich fest, als ich ins Haus gehe, mal wieder keine Spur. Mehr als vier Stunden, um ein paar vermutlich äußerst dilettantische Bilder zu begutachten? Das glaube, wer will!
Der Mittagsschlaf in der Sonne scheint mir gutgetan zu haben; ich platze vor Energie und Entschlusskraft. Ich werde jetzt sofort Moni einen Besuch abstatten, mir ihre phänomenalen Kunstwerke ansehen und anschließend meinen Rudolf nach Hause zerren. Schließlich bekommen wir Besuch, und meine Tante ist auch Rudolfs Tante. Fast zumindest.
Allerdings gibt es da noch eine kleine Schwierigkeit. Ich weiß nicht mal, wo Moni wohnt. Und ihre Telefonnummer habe ich – im Gegensatz zu Rudolf! – natürlich auch nicht. Ich greife nach dem Telefonbuch, was aber wenig weiterhilft, denn ich finde Moni weder unter ihrem Mädchennamen noch unter Huber. Dafür finde ich zufällig Ritchies Nummer und bin schon fast so weit, ihn anzurufen und nach der Adresse seiner Ex zu fragen, da kommt mir eine viel bessere Idee. Die Autowerkstatt! Hubers werden mir ja wohl sagen können, wo ihre Nichte wohnt. Ich lasse es endlos läuten.
»Lynn-Marie Huber«, piepst schließlich ein Stimmchen.
Tochter? Eher wohl Enkelin. »Hallo Lynn-Marie, ist denn der Opa da? Oder die Oma?«
… Schweigen …
»Hallo Lynn-Marie, kannst du mir mal den Opa geben? Oder die Oma?« Ich halte die Luft an.
Lynn-Marie scheint ein sehr schüchternes Wesen zu sein. Schließlich, als ich es schon fast nicht mehr glaube, höre ich sie flüstern: »Dr Oppa isch im Garte und die Oma au.«
»Lynn-Marie, du bist ein richtiger Schatz«, lobe ich sie. »Kannst du jetzt mal mit dem Telefon in der Hand in den Garten gehen? Du machst das ganz schön vorsichtig, damit du nicht stolperst, und dann gibst du dem Opa das Telefon. Oder der Oma, wie du magst. Du bist doch schon ein großes Mädchen, das kriegst du doch hin.«
… An das Schweigen bin ich ja bereits gewohnt, aber dann … »Lynn-Marie, du musst doch nicht weinen!«, rufe ich erschrocken, denn ich habe wirklich keine Lust, als Kinderschreck in die Huber’sche Familiengeschichte einzugehen. »Es gibt keinen Grund zu weinen, überhaupt keinen, glaub mir. Du darfst jetzt ganz schnell auflegen.«
Was Lynn-Marie auch umgehend macht. Mir bleibt also nichts anderes übrig, als bei Hubers vorbeizufahren, mich nach einem gepflegten Smalltalk (»So, sind Sie auch im Garten? Ja, ja, das Wetter. Man hätte ja nicht gedacht, dass es noch mal so schön wird, aber wer weiß, für nächste Woche sagen sie schon wieder Regen an …«) ganz nebenbei nach Monis Adresse zu erkundigen. Und wer weiß, was ich von Herrn Huber noch alles erfahre, wenn ich ihn charmant anlächle. Ich greife nach den Gelben Seiten.
Die Huber’sche Anzeige hebt sich wohltuend von den üblichen nichtssagenden Formulierungen ab. Begeistert lese ich:
Wer zu Huber sein Auto bringt, vor Freude an die Decke
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