Seele zum Anbeißen: Roman (German Edition)
springt!
Also auf in die Zollenreuter Straße. Und ich kann auf dem Rückweg auch noch gleich Kuchen mitnehmen; ich erinnere mich nämlich, dass in der Bachstraße ein Café ist und Tante Frieda sehr großen Wert auf eine gepflegte Kaffeetafel legt.
Was ich bei meinen Überlegungen allerdings völlig vergessen habe: Ich habe ja gar kein Auto. Rudolf an meiner Stelle würde jetzt gewiss wieder ein Taxi bestellen, zu Hubers fahren, den Fahrer anweisen, dass er warten solle, dann weiter zur nächsten Station … Meine genetische Voreinstellung (schwäbisch!) jedoch hält so etwas für überflüssigen Luxus, und deshalb hole ich lieber mein altes Fahrrad aus der Garage.
Sieht noch tadellos aus, nur etwas verstaubt, und außerdem muss man die Reifen aufpumpen. Was für mich aber kein Problem ist, und nachdem ich mich vergewissert habe, dass Papa inzwischen tatsächlich schläft, radle ich los, in dem erhebenden Bewusstsein, gleichzeitig etwas für die Umwelt und für meine Figur (das Übliche: Bauch-Beine-Po) zu tun. In Berlin verbringe ich mindestens einen halben Tag in der Woche im Fitness-Studio – na ja, meistens. Immer kommt man ja auch nicht dazu, aber wenigstens im Urlaub sollte man doch etwas Sport treiben. Was wäre da geeigneter, als in Aulendorf Rad zu fahren, vor allem, weil es hier so wunderschön bergab geht – wie jetzt.
Es läuft wie geschmiert, gemütlich die Hillstraße hinunter, ein kurzes Stück die Mockenstraße und dann die Allewindenstraße, herrlich. Ich merke, wie ich Glückshormone ohne Ende freisetze. Ich kann es gerade so laufen lassen, bis die Straße sich gabelt und ich anhalten und mich entscheiden muss. Was mir generell schwerfällt, und jetzt ganz besonders, weil mit dem Fahrrad irgendwas nicht stimmt (die Gangschaltung scheint ein Eigenleben zu führen) und ich leider inzwischen die Hausnummer von Hubers vergessen habe. Deshalb stürze ich mich förmlich auf die Frau, die gerade aus dem Haus an der Ecke kommt. »Hallo, können Sie mir helfen? Ich suche die Autowerkstatt Huber!«
»Huber?« Ein ratloser Blick, Kopfschütteln.
»Wer zu Huber sein Auto bringt, vor Freude an die Decke springt«, helfe ich weiter.
»Nix Huber, ich nix wissen.« Die Frau lächelt mich entschuldigend an. »Nix.«
»Danke«, murmle ich. Sie wendet sich nach rechts, und ich entscheide mich spontan für links. Ärgerlich, dass ich vorhin nicht mit meinem Handy telefoniert habe, sonst könnte ich jetzt nochmals anrufen und Lynn-Marie wenigstens die Hausnummer aus der Nase ziehen. Dieses Mal würde ich es aber pädagogisch klüger anstellen, denke ich, als ich die Zollenreuter Straße entlangradle, die wie ausgestorben wirkt. Weit und breit niemand, den ich fragen könnte; vermutlich bin ich der einzige Mensch, der bei diesen tropischen Temperaturen auf der Straße ist. Jeder, der auch nur ein Fünkchen Verstand hat, sitzt jetzt entweder im schattigen Garten oder bleibt gleich ganz im Haus.
Ich fächle mir gerade mit der Hand etwas Kühlung zu, da trete ich auf einmal ins Leere. Eine Schrecksekunde lang glaube ich zu stürzen. Aber ich kann mich gerade noch abfangen und will schon aufatmen, da sehe ich die Bescherung, die meiner Radtour endgültig den Garaus macht. Die Kette ist abgesprungen!
Nun bin ich zwar eine echte Powerfrau (ich könnte zur Not sogar einen Autoreifen wechseln), aber dieser Kette bin ich nicht gewachsen. Sämtliche Versuche scheitern, und als ich mich schließlich wieder aufrichte, habe ich nicht nur mordsmäßig dreckige Finger, mir tut auch noch das Kreuz gewaltig weh. Und das Wunder, auf das ich einen Moment gehofft habe (ich schaue hoch und stehe direkt vor der Autowerkstatt Huber), gibt es natürlich auch nicht. Ich darf also wieder den Rückzug antreten. Was nichts anderes heißt, als mein Rad den Berg hochzuschieben.
Dieser Tag wird vermutlich als der heißeste Sonntag seit mindestens hundertfünfzig Jahren in die Ortschronik eingehen. Meine Zunge klebt am Gaumen, das T-Shirt am Rücken, ich bin völlig durchgeschwitzt und mit meinem Latein am Ende. Rudolf, den ich immer wieder anrufe, geht nicht ans Handy, er hat nicht einmal die Mailbox eingeschaltet. Mir bleibt also nichts anderes übrig, als das Rad die Allewindenstraße hochzuschieben, endlos zieht es sich. Ab und zu fährt ein Auto vorbei, und ich sehe mitleidige Gesichter.
Wenn doch nur irgendwo Schatten wäre.
Hinter mir höre ich Stimmen. Eine Gruppe Radsportler in giftgrünen Trikots überholt mich lässig.
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