Seelen der Nacht
Horizont gestiegen war, begann der Nebel über dem Wasser zu verdampfen, und ich glitt abwechselnd durch graue Schleier und rosigen Sonnenschein.
Als ich am Steg anlegte, saß Matthew bereits auf den Stufen, die zum Balkon des Bootshauses führten. Um den Hals trug er einen uralten Schal in dem braun-weißen Streifenmuster des New College. Ich kletterte aus dem Boot, stemmte die Hände in die Hüften und sah ihn ungläubig an.
»Wo hast du dieses Ding her?« Ich deutete auf den Schal.
»Eigentlich erwarte ich etwas mehr Respekt gegenüber einem ehemaligen Mitglied des College«, antwortete er mit einem boshaften Grinsen und warf ein Ende des Schals über seine Schulter. »Ich glaube, ich habe den Schal 1920 gekauft, aber ich weiß es wirklich nicht mehr. Jedenfalls nach dem Ersten Weltkrieg.«
Kopfschüttelnd trug ich die Riemen ins Bootshaus. Gerade als ich das Boot aus dem Wasser zog, glitten zwei Teams in perfektem, kraftvollem Einklang am Steg vorbei. Ich ging leicht in die Knie und hob das Skiff an, bis das Gewicht auf meinem Kopf lastete.
»Soll ich dir nicht damit helfen?« Matthew erhob sich bereitwillig.
»Auf gar keinen Fall.« Mit langen Schritten trug ich das Boot ins Haus. Er murrte leise vor sich hin.
Nachdem das Boot sicher in seinem Gestell hing, ließ ich mich gern
von Matthew zu einem Frühstück in Marys und Dans Café überreden. Er würde fast den ganzen Tag neben mir sitzen müssen, und ich war nach dem morgendlichen Training hungrig. Diesmal führte er mich am Ellbogen um die anderen Frühstücksgäste herum, und seine Hand lag deutlich fester auf meinem Rücken als bei unserem ersten Besuch. Mary begrüßte mich wie eine alte Freundin, und Steph brachte uns gar nicht erst die Speisekarte, sondern verkündete »das Übliche«, sobald sie an unserem Tisch vorbeikam. Dabei hob sich ihre Stimme nicht einmal zu einer Frage, und als der Teller kam – mit Eiern, Speck, Pilzen und Tomaten beladen –, war ich froh, dass ich nicht auf einem damenhafteren Frühstück bestanden hatte.
Nach dem Frühstück trottete ich in mein Apartment, um zu duschen und mich umzuziehen. Fred linste durch sein Fenster, um festzustellen, ob tatsächlich Matthews Jaguar vor dem Tor stand. Garantiert hatten die Pförtner untereinander Wetten abgeschlossen, wie sich unsere eigentümlich steife Beziehung wohl entwickeln würde. An diesem Morgen war es mir erstmals gelungen, meinen selbst ernannten Bodyguard zu überzeugen, dass er mich einfach aussteigen lassen sollte.
»Es ist heller Tag, und Fred kriegt einen Vogel, wenn du während der Lieferzeiten sein Tor zuparkst«, protestierte ich, als Matthew aussteigen wollte. Er hatte mich finster angesehen, sich dann aber dazu herabgelassen, den Wagen nur quer vor dem Eingang abzustellen, so als wollte er einer möglichen Attacke per Lkw vorbeugen.
An diesem Morgen musste ich alles besonders langsam und überlegt tun. Ich duschte lang und genüsslich und ließ das heiße Wasser meine müden Muskeln weich und geschmeidig machen. Genauso gemächlich schlüpfte ich in eine bequeme schwarze Hose, einen Rollkragenpullover, weil ich mir in der immer kühleren Bibliothek keinen Zug holen wollte, und eine halbwegs präsentable dunkelblaue Strickjacke, um das Schwarz wenigstens geringfügig aufzubrechen. Die Haare hatte ich zu einem tief sitzenden Pferdeschwanz gebündelt. Die kurze Strähne fiel mir wie üblich in die Stirn, so oft ich sie auch grummelnd hinters Ohr zurückschob.
Trotz aller Bemühungen merkte ich, wie sich die Angst in mir regte,
sobald ich die Türen zur Bibliothek aufstieß. Der Wachmann reagierte mit einem argwöhnischen Blick auf mein untypisch warmherziges Lächeln und ließ sich unangemessen viel Zeit, um mein Gesicht mit dem Bild auf meinem Leseausweis abzugleichen. Schließlich winkte er mich durch, und ich stürmte die Treppe zum Lesesaal hinauf.
Es war höchstens eine Stunde vergangen, seit Matthew mich abgesetzt hatte, trotzdem freute ich mich, als ich ihn gleich in der ersten Nische entdeckte, wo er hinter einem elisabethanischen Schreibtisch auf einem der höllisch unbequemen Stühle saß. Als mein Laptop auf der vernarbten Tischplatte landete, sah er auf.
»Ist er hier?«, flüsterte ich, weil ich Knox nicht beim Namen nennen wollte.
Matthew nickte grimmig. »Im Selden End.«
»Schön, meinetwegen kann er dort warten, bis er schwarz wird«, murmelte ich leise und zog einen leeren Bestellzettel aus dem flachen rechteckigen Behälter auf
Weitere Kostenlose Bücher