Seelen der Nacht
verschollen. Wir haben es auch nicht auf Mikrofilm.« Matthews Stuhl rutschte kratzend zurück.
»Aber ich habe es vor ein paar Wochen eingesehen.«
»Das ist unmöglich, Dr. Bishop. Dieses Manuskript hat seit hundertfünfzig Jahren niemand mehr zu Gesicht bekommen.« Mr Johnson blinzelte mich durch die dick umrahmte Brille an.
»Dr. Bishop, hätten Sie einen Moment Zeit, ich möchte Ihnen gern etwas zeigen?« Matthews Stimme ließ mich zusammenfahren.
»Ja, natürlich.« Ich drehte mich wie ferngesteuert zu ihm um. »Danke«, flüsterte ich Mr Johnson über die Schulter zu.
»Wir gehen. Sofort«, zischte Matthew. Im Gang stand ein ganzes Sortiment verschiedener Geschöpfe und ließ uns nicht aus den Augen. Ich sah Knox, Timothy, die unheimlichen Schwestern, Gillian – und dazu einige mir unbekannte Gesichter. Und von den Wänden über den hohen Regalen starrten uns ebenso verdrossen und missbilligend die Porträts der Könige, Königinnen und anderer illustrer Gestalten an, die den Duke-Humfrey-Lesesaal zierten.
»Es kann unmöglich verloren gegangen sein«, wiederholte ich wie betäubt. »Wir sollten sie danach suchen lassen.«
»Sprich jetzt nicht darüber – denk nicht einmal darüber nach.« Er sammelte meine Sachen so schnell zusammen, dass ich seine Hände nur als verschwommenen Schatten wahrnahm, während er meine Arbeit speicherte und den Computer herunterfuhr.
Gehorsam begann ich im Geist die englischen Könige herunterzubeten, angefangen bei Wilhelm dem Eroberer, um alle Gedanken an das verschollene Manuskript aus meinem Kopf zu verbannen.
Knox ging an uns vorbei und tippte geschäftig in sein Handy. Ihm folgten die unheimlichen Schwestern, die heute noch düsterer wirkten als sonst.
»Warum gehen sie alle?«, fragte ich Matthew.
»Du hast Ashmole 782 nicht bekommen. Jetzt ziehen sie sich zurück, um neue Schlachtpläne auszuhecken.« Er drückte mir meine Tasche und den Computer in die Hand und nahm meine beiden Manuskripte.
Mit der freien Hand packte er mich am Ellbogen und schob uns zur Ausleihtheke. Timothy winkte traurig vom Selden End herüber, machte das Peace-Zeichen und wandte sich dann ab.
»Sean, Dr. Bishop geht mit mir ins College zurück und hilft mir bei der Lösung eines Problems, auf das ich bei der Lektüre der Needham-Papiere gestoßen bin. Die hier wird sie heute nicht mehr benötigen. Und auch ich komme heute nicht mehr her.« Matthew reichte Sean die Kartons mit den Handschriften. Sean sah den Vampir finster an, dann klopfte er die Kartons zu einem ordentlichen Stapel und marschierte damit zur Ablage.
Auf dem Weg nach unten wechselten wir kein Wort, und als wir endlich durch die Glastür ins Freie traten, platzte ich fast vor ungelösten Fragen.
Peter Knox lehnte an dem Eisengeländer um die Bronzestatue von William Herbert. Matthew blieb abrupt stehen und schob mich im nächsten Moment mit einer kurzen Schulterdrehung hinter seinen massigen Rücken.
»Sie haben es also nicht mehr bekommen, Dr. Bishop«, erklärte Knox boshaft. »Ich habe Ihnen doch erklärt, dass das beim ersten Mal nur Zufall war. Selbst eine Bishop bräuchte eine gründliche Ausbildung in Hexerei, um diesen Bann zu brechen. Ihre Mutter wäre womöglich dazu imstande gewesen, aber Sie scheinen ihr Talent nicht geerbt zu haben.«
Matthew schürzte die Lippen, sagte aber nichts.
»Es ist verschollen. Meine Mutter hatte Talent, aber sie war kein Bluthund«, fauchte ich ihn an, und Matthew hob leicht die Hand, um mich zu beruhigen.
»Es war auch vorher verschollen«, stellte Knox fest. »Trotzdem haben Sie es gefunden. Allerdings ist es gut, dass Sie den Bann kein zweites Mal brechen konnten.«
»Und warum?«, fragte ich ungeduldig.
»Weil wir nicht zulassen dürfen, dass unsere Geschichte in die Hände von Tieren wie dem da fällt. Hexen und Vampire sollten sich nicht zusammentun, Dr. Bishop. Dafür gibt es sehr gute Gründe. Vergessen
Sie nie, wer Sie sind. Andernfalls werden Sie es bestimmt bereuen.«
Eine Hexe sollte keine Geheimnisse vor anderen Hexen haben. Sonst passieren schreckliche Dinge. Gillians Stimme hallte in meinem Kopf. Ich kämpfte die Panik nieder, die an die Oberfläche blubberte.
»Wenn Sie Dr. Bishop noch einmal bedrohen, werde ich Sie auf der Stelle töten.« Matthew sagte das ganz beiläufig, aber der erschrockene Blick eines vorbeikommenden Touristen ließ vermuten, dass sein Gesicht seine Gefühle verriet.
»Matthew«, ermahnte ich ihn leise. »Nicht
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