Seelen der Nacht
aussah.
»Warum hasst sie die Hexen so? Vampire und Hexen sind traditionell verfeindet, aber Ysabeaus Abneigung gegen mich geht viel tiefer. Mir kommt es so vor, als hätte sie ganz persönlich etwas gegen mich.«
»Dass du wie der Frühling riechst, reicht dir nicht als Antwort, nehme ich an.«
»Sag mir die Wahrheit.«
»Sie ist neidisch.« Matthew tätschelte Dahr.
»Worauf in aller Welt sollte sie neidisch sein?«
»Mal sehen. Auf eure Macht – vor allem auf die Fähigkeit der Hexen, in die Zukunft zu schauen. Auf euer Vermögen, Kinder zu gebären und diese Macht an eine neue Generation weiterzugeben. Und auf die Leichtigkeit, mit der ihr sterbt, nehme ich an«, fügte er nachdenklich hinzu.
»Ysabeau hatte dich und Louisa als Kinder.«
»Ja. Ysabeau hat uns beide gemacht. Aber ich glaube nicht, dass es das Gleiche ist, wie ein Kind zu gebären.«
»Warum beneidet sie die Hexen um ihr zweites Gesicht?«
»Das hat damit zu tun, wie Ysabeau zum Vampir wurde. Ihr Vater
fragte sie nicht erst um Erlaubnis.« Matthews Gesicht verdüsterte sich. »Er wollte sie zur Frau, also nahm er sie sich einfach und machte sie zum Vampir. Sie hatte damals einen Ruf als Seherin und wäre noch jung genug gewesen, um Kinder zu bekommen. Als sie Vampirin wurde, wurden ihr beide Möglichkeiten genommen. Das hat sie nie wirklich verwunden, und ihr Hexen erinnert sie jedes Mal an das Leben, das sie verloren hat.«
»Warum beneidet sie die Hexen darum, dass sie so leicht sterben können?«
»Weil sie meinen Vater vermisst.« Er verstummte unvermittelt, und mir war klar, dass ich nicht tiefer bohren durfte.
Der Wald wurde lichter, und Rakasas Ohren zuckten ungeduldig vor und zurück.
»Nur zu«, sagte er resigniert und deutete auf das freie Feld vor uns.
Auf den leisesten Schenkeldruck hin machte Rakasa einen Satz nach vorn und zog die Gebissstange zwischen die Zähne. Während des Anstiegs auf den Hügel wurde sie langsamer, und oben auf der Kuppe warf sie tänzelnd den Kopf zurück, sichtlich erfreut darüber, dass Dahr noch unten am Fuß des Hügels stand, während sie es nach oben geschafft hatte. Ich ließ sie eine schnelle Acht laufen, wobei ich den Zug möglichst schnell wechselte, damit sie beim Wenden nicht ins Stolpern geriet.
Jetzt schoss Dahr los – nicht im Kanter, sondern im gestreckten Galopp –, den schwarzen Schweif wie eine Fahne hinter sich. Seine Hufe schlugen unvorstellbar schnell auf die Erde. Ich schnappte kurz nach Luft und zog leicht an Rakasas Zügeln, damit sie stehenblieb. Dazu waren Schlachtrösser also gezüchtet worden. Sie konnten von null auf hundert durchstarten wie ein hochgetunter Sportwagen. Matthew machte keine Anstalten, das Pferd abzubremsen, doch genau zwei Meter vor uns blieb Dahr stocksteif stehen, die Flanken nach der Anstrengung leicht nach außen gewölbt.
»Angeber! Mich willst du nicht einmal über einen Zaun springen lassen, und dann spielst du dich so auf?«, griff ich ihn an.
»Dahr bekommt nicht genug Auslauf. Das ist genau das, was er
braucht.« Matthew grinste und tätschelte seinem Pferd die Schulter. »Wärst du an einem Rennen interessiert? Ihr bekommt natürlich einen Vorsprung«, bot er uns mit einer höfischen Verbeugung an.
»Und wie. Wohin?«
Matthew deutete auf einen einsamen Baum auf dem Hügelkamm und sah mich an, gespannt auf das erste Anzeichen einer Bewegung achtend. Er hatte ein Ziel ausgewählt, an dem wir vorbeireiten konnten, ohne befürchten zu müssen, dass wir irgendwo aufprallten. Vielleicht war Rakasa nicht ganz so gut wie Dahr, wenn es darum ging, abrupt stehenzubleiben …
Ich machte mir keine Hoffnungen, dass ich einen Vampir überraschen könnte oder dass meine Stute – so geschmeidig sie sich auch bewegte – schneller als Dahr auf dem Kamm ankommen könnte. Trotzdem wollte ich für mein Leben gern feststellen, wie sich Rakasa schlagen würde. Ich beugte mich vor, tätschelte sie im Nacken, ließ mein Kinn kurz auf ihrem warmen Fleisch ruhen und schloss die Augen.
Flieg , ermunterte ich sie wortlos.
Rakasa schoss los, als hätte ich ihr die Peitsche gegeben, und ich ließ mich ganz von meinem Instinkt leiten.
Ich hob mich aus dem Sattel, damit sie mich leichter tragen konnte, und bündelte die Zügel in einem losen Knoten. Als sie nicht mehr schneller wurde, ließ ich mich langsam in den Sattel zurücksinken und umklammerte ihren warmen Rumpf mit meinen Schenkeln. Meine Füße schlüpften aus den überflüssig
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