Seelen der Nacht
Versprechen sonst noch ab?«
»Keine Politik, keine Religion. Zu viele Prinzen und Päpste waren damals nichtmenschliche Geschöpfe. Als die Menschen begannen, Chroniken zu verfassen, wurde es immer komplizierter, von einem Leben ins nächste zu wechseln.« Ysabeau schauderte. »Weil die Menschen uns immer genauer beobachteten, war es für uns Vampire bald schwierig, einen glaubhaften Tod vorzutäuschen und dann ein neues Leben zu beginnen.«
Ich warf einen kurzen Blick auf Matthew und Domenico, aber beide standen noch vor den Mauern des Châteaus. »Also«, wiederholte ich und zählte die einzelnen Punkte an den Fingern ab. »Keine Verbrüderung unter verschiedenen Arten von Geschöpfen. Keine Einmischung in menschliche Politik oder Religion. Noch etwas?« Offenbar rührte die Xenophobie meiner Tante und ihr erbitterter Widerstand gegen mein Jurastudium daher, dass sie diese uralte Übereinkunft nicht wirklich verstanden hatte.
»Ja. Sollte ein Geschöpf den Pakt brechen, dann ist es Aufgabe der Kongregation, dafür zu sorgen, dass dieses Fehlverhalten unterbunden und der Eid nicht verletzt wird.«
»Und wenn zwei Geschöpfe den Pakt brechen?«
Die Stille dehnte sich zum Zerreißen.
»Soweit ich weiß, ist das noch nie vorgekommen«, antwortete sie grimmig. »Und daher ist es nur gut, dass ihr es nicht getan habt.«
Gestern hatte ich Matthew die simple Frage gestellt, ob er sich zu
mir legen wollte, und er hatte genau gewusst, dass das mitnichten eine simple Frage war. Es war nicht so, wie ich vermutet hatte, nämlich dass er mir oder seinen Gefühlen misstraut hätte. Nein, Matthew hatte erst wissen wollen, wie weit uns die Kongregation würde gehen lassen, bevor sie eingriff.
Die Antwort hatten wir postwendend erhalten. Man würde uns keinen Schritt weiter gehen lassen.
Meine Erleichterung schlug in Zorn um. Wenn sich niemand beschwert und sich unsere Beziehung ungestört weiterentwickelt hätte, dann hätte er mir nie von der Kongregation oder dem Pakt erzählt. Und sein Schweigen hätte sich auf meine Familie ebenso wie auf seine ausgewirkt. Vielleicht hätte ich bis ans Ende meiner Tage meine Tante und Ysabeau für bigott gehalten. Stattdessen erfüllten beide nur ein Versprechen, das vor langer Zeit abgegeben worden war – was mir zwar unverständlich, aber doch verzeihlich war.
»Ihr Sohn muss endlich aufhören, Geheimnisse vor mir zu haben.« Mein Zorn kochte hoch, bis meine Fingerspitzen wieder kribbelten. »Und Sie sollten sich weniger Gedanken über die Kongregation machen als darüber, was ich mit ihm anstellen werde, wenn er mir wieder unter die Augen tritt.«
Sie schnaubte. »Sie werden nicht allzu viel anstellen können, weil er Sie sofort dafür rügen wird, dass Sie in Domenicos Gegenwart seine Autorität in Zweifel gezogen haben.«
»Ich stehe nicht unter seiner Autorität.«
»Sie, meine Liebe, müssen noch viel über Vampire lernen«, stellte sie selbstzufrieden fest.
»Und Sie über mich. Genau wie die Kongregation.«
Ysabeau packte mich bei den Schultern und bohrte die Fingernägel in meine Oberarme. »Das ist kein Spiel, Diana. Matthew ist bereit, sich gegen Kreaturen zu stellen, die er seit Jahrhunderten kennt, nur um Sie zu schützen. Ich bitte Sie inständig, das nicht zuzulassen. Andernfalls wird man ihn umbringen.«
»Matthew ist sein eigener Herr, Ysabeau«, gab ich kühl zurück. »Ich werde ihm nicht vorschreiben, was er zu tun hat.«
»Nein, trotzdem steht es in Ihrer Macht, ihn wegzuschicken. Erklären Sie ihm, dass Sie sich weigern, seinetwegen den Pakt zu brechen – oder dass Sie bloß Ihre Neugier stillen wollten –, dafür sind Hexen schließlich berühmt.« Sie stieß mich weg. »Wenn Sie ihn lieben, werden Sie genau wissen, was Sie sagen müssen.«
»Es ist vorbei«, rief Marthe vom Treppenaufgang aus.
Wir eilten an die Brüstung. Ein schwarzes Pferd mit Reiter galoppierte von den Stallungen weg und setzte über den Zaun der Koppel, bevor es mit donnernden Hufen im Wald verschwand.
22
W ir hatten zu dritt im Salon auf ihn gewartet, seit er am späten Vormittag auf Balthasar losgeritten war. Inzwischen wurden die Schatten länger. Ein Mensch wäre nach der Anstrengung, das mächtige Pferd auf offenem Gelände zu kontrollieren, halb tot gewesen. Allerdings hatten mir die Ereignisse vom Vormittag wieder vor Augen geführt, dass Matthew kein Mensch, sondern ein Vampir war – mit zahllosen Geheimnissen, einer komplizierten Vergangenheit und
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